Sehr persönliche Gedanken beim Überqueren der Torgauer Elbbrücke


Prof. em.  Dr. habil. Walter Hundt, Fichtenwalde

                              

(Erschien von Anfang Januar bis Ende April 2010 - 65. Jahrestag der Begegnung der Alliierten auf den Trümmern der Torgauer Elbbrücke 1945 -  jeweils freitags reich bebildert in der „Torgauer Zeitung“)


Vorbemerkung

Eine leichtfertige Zusage an eine liebe Freundin – die Torgauer Heimatvereinsaktivistin Anita Baier –  irgend einen Artikel für den verdienstvoll seit vielen Jahren wirkenden Torgauer Heimatkalender zu verfassen, löste bei mir mühevolles Grübeln, das obige Thema als zaghaften Vorschlag, danach erneutes Zögern und Zaudern aus, ob die Substanz ausreicht und – außer für mich selbst – auch für andere von Interesse und einigermaßen lesenswert sein könne. Als historisches „Lehrstück“ zur Wissensvermittlung sicher nicht besonders geeignet, sind es viel mehr persönliche  Erinnerungen und Emotionen eines Mannes im wohl letzten Lebensabschnitt, der sich zeitlebens als „alten Torgauer“ betrachtete. Aber reicht das aus? Von meinen immer noch vielen (nach über zehnjähriger Emeritierung eigentlich zu vielen) Terminen und Verpflichtungen getrieben und von meiner erwähnten Kollegin freundlich-einfühlsam gedrängt und erinnert, kam es dann endlich zum Versuch, und plötzlich sogar mit ein wenig Freude und Gefallen am Erinnern,  Nachdenken und Niederschreiben. Da das Resultat  für den Heimatkalender zu voluminös geworden war, kam es zur Idee, mit der „Torgauer Zeitung“ Kontakt aufzunehmen, zumal der 65. Jahrestag der Begegnung an der Elbe auf die Stadt Torgau zukommt.


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Die Torgauer Elbbrücke als technischer Faktor und ihr technisch-historischer Werdegang nach meiner von Lehrer Grätz geprägten Erinnerung


Ein Blick des Nichttechnikers in „Brockhaus´ ABC der Naturwissenschaft und Technik“ lehrt ihn, daß Brücken „Ingenieurbauten (sind), die einen Verkehrsweg . . . über ein Hindernis führen und aus Tragwerk (Überbau), Pfeilern und Widerlagern sowie dem Grundmauerwerk (Unterbau) bestehen.“ Was die Typologie des Überbaus in Abhängigkeit vom Baustoff anbelangt, so erweist sich die Torgauer Elbbrücke als „Wechselbalg“, was verkehrstechnisch mit den Anforderungen zunehmender Verkehrsströme infolge der Entwicklung von Gewerbe und Industrie sowie Handel und politisch mit militärischen Erfordernissen (Rüstung, Kriegsvorbereitung, Kriege) zusammenhing. Mal war sie Holz-, mal Stahl- und mal, zumin-  dest partiell, Betonbrücke. Nach der Art des Tragwerks pendelte sie in der Geschichte zwischen Bogen- und Balkenbrücke hin und her. Zeitweilig – zumeist infolge Zerstörung – erhielt sie „Stiefgeschwister“ rechts oder links von ihrem historisch begründeten Standort, meist aus Holz, aber auch aus Pontonteilen zusammengefügt. Nie war sie meines Wissens Zugbrücke oder Klappbrücke.

Die erste Fachliteratur zum Thema (z.B. von E. Henze „Geschichte der ehemaligen Kur- und Residenzstadt Torgau“/1925 und „Torgau und Umgebung“/1924 sowie von K. Markus „Meine schöne Heimat der Kreis Torgau“/1932), fiel mir 1945 „in die Hände“, als Unterricht fast nicht mehr stattfand und das große Schulgebäude auf der Promenade auf die Aufnahme Tausender Flüchtlinge aus den Ostgebieten vorbereitet wurde. Wegen der Räumung vieler Zimmer entstanden auf dem Schulhof riesige provisorische „Ablagerungen“, frei dem Wetter ausgesetzt. Sie bildeten wenige Wochen danach den Grundstock für große Haufen von Büchern, die die beiden Hausmeister Pabusch und Daehne als literarisches Ergebnis der „Entnazifizierung“ der Schulbibliotheken zu entsorgen hatten. Meine innere moralische Rechtfertigung für den quasi Diebstahl: Rettung von (nachweislich nichtfaschistischen) Büchern vor der Vernichtung!

 

Wenig später entstand im Unterricht bei meinem verehrten Konrektor Max Grätz, einer legendären Gestalt der Torgauer Schulgeschichte, eine akribische Liste geschichtlicher, die Brücke betreffender Jahreszahlen, die ich zusammenstellen und auswendig lernen mußte. Dank seiner zwar oft geschmähten, aber in vielerlei Hinsicht auch bewährten Pauk-Methodik saßen die Meilensteine des Baus und der Entwicklung von Brücken an der historischen Stelle am Porphyrfelsen als Tabelle (von mir nunmehr ergänzt ) fest im Gedächtnis:


   1070                    Zerstörung der einst von Doberluger Mönchen erbauten Holzbrücke

   1381                    Errichtung einer neuen Holzkonstruktion; nach wenigen Jahren abgetragen

   1494-1529           Bau der ersten steinernen Brücke, die 1637 im 30jährigen Krieg zerstört wurde

   1661-1666           Neubau der fünften, nunmehr überdachten  Brücke mit steinernen Pfeilern

   1760                    Brücke durch die Österreicher im 7jährigen Krieg in Brand geschossen;

   1761                    wiederhergestellt und erneuert                            

   1836-1840           Bau einer neuen steinernen Brücke mit nunmehr 14 Pfeilern

   1878-1880           Bau einer modernen Eisenbrücke

   1932-1933           Errichtung einer neuen, breiteren und höher belastbaren Brücke mit neuem

                               100m-Bogen nach Entfernung des Pfeilers in der Flußmitte nach einem   

                               Schiffsunglück    

   25.4.1945            Sprengung durch die Wehrmacht ; Aufeinandertreffen der sowjetischen    

                               und amerikanischen Truppen; danach monatelang Notbrücken                   

 bis Sept. 1945       Entfernung der Brückentrümmer

                                                                                                                                                                  

   16.04.1946          Freigabe der wieder errichteten Brücke mit Mittelpfeiler

   08.07.1993          Einweihung einer völlig neuen Brücke mit 509 m Länge

   Juni/August1994 Sprengung der „Brücke der Begegnung“ trotz Bürgerprotestes in einer Nacht- und Nebelaktion


Beim Sinnieren über die Brücke stellte ich plötzlich fest, daß es – natürlich außerhalb fast jeder Technik – in diesem Zusammenhang zumindest auch noch „Gedankenbrücken“ geben muß !?


Die Torgauer Elbbrücke als menschlich-subjektiv(-persönlicher) Faktor meines Lebens


Für mich stand sehr früh fest, daß die Torgauer Straßenbrücke über die Elbe eine ganz besondere Rolle in meinem Leben spielt, irgendwie etwas ganz Besonderes ist und immer war. Äußerlich fand das offenbar seinen Ausdruck darin, daß an der Wand meines „Kinder- zimmers“ (einer fensterlosen Kammer, wie sie meist Bestandteil Torgauer Arbeiter-  wohnungen auf Hinterhöfen war; in meinem Falle Fischerstr. 8, die ehemalige Kurfürstliche Hofbäckerei, die später eine Restauration beherbergte, zu meiner Zeit „Germer-Lenis Sternburg Bräu“), solange ich denken konnte, ein Bild dieser Brücke hing. Vielleicht  ergab sich diese besondere Bindung auch daraus, daß ich zwar nicht auf der Brücke geboren wurde, wohl aber mein fast erster Ausflug im Kinderwagen nach meiner Taufe am 26. August 1934 bei Pfarrer Runze in der Marienkirche mit der ganzen Verwandtschaft vorbei am Neptun auf dem Schloßhof direkt an die Brücke und auf die Brücke führte. Später sollte es dort, auf der Brücke, auch am Fuße der Brücke oder ganz in ihrer Sichtweite zu einer  Reihe teils schöner Erlebnisse, aber auch zu tragischen Ereignissen oder Entscheidungen und Schicksalsschlägen für mich kommen.

Immer wieder zog und zieht es mich zur Brücke zurück, und ich weiß nicht mehr, wie oft ich in den verschiedenen Abschnitten meines Lebens die Brücke passiert habe, anfangs zu Fuß und mit dem Fahrrad, später per Motorrad und PKW, mit dem Boot oder mit einem Schiff, vielfach mit dem Flugzeug, bei Niedrig- und bei Hochwasser, auch bei Eisgang und einige wenige Male angesichts eines fest zugefrorenen Flusses.


Seit meinem Wegzug von Torgau 1965 habe ich während meiner beruflichen und politischen Tätigkeit, in der Forschung und in der Lehre, im Feldstudium, auf Konferenzen und Kongressen  in zahlreichen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas - darunter nicht selten gefährliche Konfliktzonen - , in seinerzeitigen sozialistischen und in westlichen Staaten ungezählte Brücken  gesehen, gezielt aufgesucht oder auch zufällig passiert, berühmte oder auch ganz normale. Aber stets war da das unsichtbare (virtuelle) Band zu „meiner“ Brücke von Torgau. Keine andere konnte es mit der allgemeinen und mit der speziellen Faszination ihrer Schlichtheit und ihrer Zweckmäßigkeit, gleichzeitig aber auch mit ihrer sich aus der Kombination mit dem Fluß und mit dem Schloß ergebenden Schönheit aufnehmen. Brücken haben immer etwas mit dem Herzen der jeweiligen Stadt zu tun. Klar, daß bei dieser Feststellung die subjektive Sicht eine große Rolle spielt. Schön war es immer wieder, zu ihr zurückzukehren, wenn auch naturgemäß in immer größeren Abständen. Bei Fahrten, die mich zu irgendwelchen Zielen im Lande brachten, wurde stillschweigend mancher Umweg in Kauf genommen, damit die Route schließlich doch über die Torgauer Elbbrücke führte. Verständlich, daß mich die unverhoffte Nachricht von der mir noch heute unerklärlichen Nacht- und Nebelaktion der Sprengung im Juni 1994 besonders hart traf.


Persönliche Bezüge zur Torgauer Brücke – nach langem Nachdenken und mit gewollten zeitlich  vorgreifenden „Abschweifungen“ (siehe kursive Texte)


Kindheit und Schulzeit


Die schönsten Erinnerungen meiner Kindheit sind die Spaziergänge mit meiner Mutter, die in der Regel entlang der Elbe führten und bei denen wir Kinder – das galt als Auszeichnung für gutes Verhalten -  oben auf der Elbmauer laufen durften. Auch ich habe das später mit meinen Kindern  wieder so gehalten. Zu diesen Erinnerungen gehörten auch etwas später die Radtouren mit meinem Vater. Sie begannen an unserer Brücke und endeten oft bei der Militärbadeanstalt hinter dem Hafendamm, auf den Loßwiger Wiesen, wo der meinem Vater gut bekannte Brunnenbaumeister Block seine Pferde weiden ließ, an der Lünette Werdau oder bei den befestigten Anlagen an der Eisenbahnbrücke. Immer war die Brücke „im Visier“. Und immer wieder gab es da irgendetwas Interessantes zu sehen, nicht selten große Schleppzüge, die die Brücke passierten. Das ganze Jahr über freuten wir uns auf die Hubertusjagd, eine Art Jagdspringen, das das 10. Reiterregiment auf den Elbwiesen veranstaltete. In einer eigen- artigen Verknüpfung mit der Brücke befand sich von Kindesbeinen an der Begriff „drüben“. Anfangs hieß das „die Barone“ und meinte die Großgrundbesitzer im ostelbischen Teil des Kreises, die oft mit ihrem Ein- oder Zweispänner über die Brücke kamen und durch die Stadt fuhren. Zum Teil kannten wir Kinder sie mit Namen. Später, bereits im Krieg, waren die mit „drüben“ Gemeinten „die Gefangenen“, also Militärstrafgefangene im Brückenkopf, der zur damals größten deutschen Militärstrafanstalt im Fort Zinna gehörte. In den siebziger Jahren stellte ich zufällig fest, daß ein älterer Mitarbeiter meines Instituts in Bernau, zu diesen Gefangenen gehört hatte, und lud ihn ein, die Anlagen und, wenn möglich, seinen Zellenbau beim nächsten Besuch bei meiner Mutter in Torgau gemeinsam zu erkunden, was wir dann auch 35 Jahre nach seiner Inhaftierung umsetzten. Gegen Ende des Krieges waren mit „drüben“ „die Russen“ gemeint, die sich immer mehr näherten.


Während des Krieges stand naturgemäß auch die Brücke im Blickpunkt des allgemeinen Interesses, besonders während der ständigen nächtlichen und in Torgau ab 22.9.1941 auch Tages-Fliegeralarme. Ab Anfang des Jahres 1945 wurden beide Brücken durch Flakbatterien verschiedener Kaliber (z.B. auf dem Hafendamm vor dem „Hafenschlößchen“) und Jagdflieger, zumeist vom nahe gelegenen Flugplatz Lönnewitz, auf dem zuletzt auch die ersten deutschen damals sogenannten Turbinenjäger (vermutlich Messerschmitt Me 262) stationiert waren, gedeckt.

Einen Großteil unserer Zeit verbrachten wir damals in den Luftschutzkellern; während der Unterrichtszeit im Bunker im Rügerberg in der Nähe des Wasserturms und in der Nachtzeit im eigenen Keller. An großes Erstaunen meinerseits erinnere ich mich noch genau. Da unser Keller überdurchschnittlich groß war, andere Häuser dagegen mit kleineren vorlieb nehmen mußten, gehörten eine bestimmte Zeit lang neben unseren Hausbewohnern auch eine ganze Reihe von Damen zu unserer „Besatzung“, in deren Anwesenheit die Erwachsenen hinter vorgehaltener Hand munkelten, das seien „welche von der Brücke“ bzw. „aus der Elb-

straße 13“, was ganz in der Nähe der Brücke war. Besonders die Frauen aus unserem Hause verhielten sich ausgesprochen reserviert diesen weiblichen Gästen gegenüber, was ich überhaupt nicht verstand, zumal ich sie ganz nett fand. Und das mir mit meinen zehn Jahren unbekannte Wort „Puff“ fiel manchmal, und ein bekannter Stadtrat sollte angeblich beim Verlassen ihres Hauses gesehen worden sein. Ich fand die Damen  interessant und bedauerte, daß sie bald wieder wegblieben. An der Brücke habe ich immer mal Ausschau nach ihnen gehalten, und die Elbstraße 13 hatte ich bald entdeckt.

Neugierig verließen wir Kinder ab und zu den Luftschutzkeller und bestiegen den in unserem Hause in der oberen 4. Etage befindlichen Taubenboden, um das Luftabwehrfeuer aus Feuerstellungen im weiten Umkreis um die Elbbrücke mit Schaudern zu  beobachten. Diese Situation kam mir 40 Jahre danach plötzlich wieder in Erinnerung. Nachdem ich bereits Jahre vorher eine Gastprofessur am Diplomatischen Institut in Kabul und ein Vorbereitungs-Praktikum an der Botschaft der DDR in Kabul für eine beabsichtigte Leitungsfunktion absolviert hatte, war ich  mit der Il-18 DM-STE der Interflug im August 1984 erneut unterwegs auf dem Weg in die afghanische Hauptstadt,  im Cockpit mit einer Crew unter Flugkapitän Günter Erhart aus Wildau, die ich von der Armeezeit her persönlich kannte (die  Maschine beherbergt heute in meiner Nachbargemeinde Borkheide das Hans-Grade-Luftfahrt-Museum). Unsere Ladung bestand aus Solidaritätsgütern für die Bevölkerung, die ich in meiner Funktion als Vizepräsident der Freundschaftsgesellschaft DDR-Afghanistan im Auftrag des Solidaritätskomitees zu überbringen hatte. Bedingt durch die seinerzeitige militärische Situation saßen auf den Bergkämmen rund um den in einem Kessel gelegenen Flugplatz Kabul die sogenannten Mujahedin, ausgerüstet mit von den USA finanzierten und gelieferten Stinger-Raketen und mit von den sowjetischen Truppen eroberten Strela 2M. Ihr Feuer richtete sich auf jede anfliegende Militär- und Zivilmaschine. Die einzigen Abwehrmittel unserer unbewaffneten Maschine waren Magnesiumfackeln, mit denen sich Raketen unter bestimmten Umständen ablenken ließen, und Gebete, die  damals aber nicht so üblich waren. Die den Kabul-Fluß überquerende Brücke am Boden interessierte in dieser Situation selbst mich Brücken-Fan nicht. Übrigens war es ein Kindheitstraum von mir gewesen, einmal im Leben nach Afghanistan zu kommen, geboren beim Lesen von Filchners Expeditionsberichten in den Pausen des Kegelaufstellens in Germers Kegelbahn für eine Gruppe von Handwerkern um Uhrmachermeister Polaschek aus der Breiten Straße, womit wir uns einige Pfennige verdienten.


Die Fronten näherten sich 1945 immer mehr der Stadt Torgau mit ihrer Brücke. Längst war kein Unterricht mehr, und wir zehnjährigen Schüler verrichteten in Pimpfen-Uniform Dienst an allen möglichen Stellen. Einer unserer Lehrer hatte uns als „die Elbe 45-Generation“ bezeichnet. Schnell sollten wir noch einmal fit gedrillt werden, wozu am Platz vor der Elbbrücke angetreten wurde, um von da in das „Jägerhaus“ in Schildau-Altenhain gebracht zu werden. Ich muß gestehen, daß ich zu diesem Zeitpunkt – und das weiß ich noch ganz genau -  fest davon überzeugt war, daß „wir den Krieg gewinnen und der Führer jetzt garantiert die Wunderwaffen einsetzt“. Und für diese Überzeugung hätten viele von uns sich in Stücke hauen lassen: Ausdruck der radikalen Indoktrination der Jugend in jener Zeit. Nach stupidem Wachestehen an und auf der Brücke zur Unterstützung der uniformierten und zivilen Erwachsenen erhielt ich eines Tages den Befehl, Einheiten der an der Seite der faschistischen Wehrmacht kämpfenden russischen Wlassow-Truppen von Herzberg in die Torgauer Reiterkasernen in der Dommitzscher Straße zu geleiten. Die Brücke passierte ich – ein wenig stolz – in der Kutsche des Hetman, dessen schweren Säbel, den er abgelegt hatte, zwischen meinen Knien. Zum ersten Mal rollte ich „bewaffnet“ über meine Brücke! Das sollte dann später noch viermal geschehen. Während eines Schanzeinsatzes zum Bau von Panzergräben auf der Brückenkopfseite erhielten wir quasi aus dem Kochgeschirr aus der Hand irgendeines Amtsleiters in NSDAP-Uniform - angeblich „im Namen des Führers“ - die braune Schanzmedaille.

Auch diejenigen unserer Väter, die nicht an der Front waren, wurden inzwischen uniformiert und bewaffnet (seitdem stand in unserer Wohnstube ein italienischer Stutzen) und als „Volkssturm“ unter dem Kommando von Friseurmeister Bergmann aus der Kurstraße auf ihren Beitrag zum „Endsieg“ hier an der Brücke  vorbereitet. Am 13.4.1945 erließ der inzwischen ernannte, im Flaschenturm des Schlosses sitzende Kampfkommandant von Torgau, das zur Festung erklärt worden war, den Räumungsbefehl für die Zivilbevölkerung. Während die Väter bleiben mußten, wurden die minderjährigen Pimpfe ihren schimpfenden Müttern überlassen, um mit Handwagen und kleinem Gepäck in Richtung Belgern zu flüchten. Viel lieber wären wir bei den Vätern an der Brücke geblieben. Stattdessen wurden wir auf der Straße vor Belgern von amerikanischen „Lightnings“ unter Feuer genommen und landeten schließlich in Schöna, Amtshauptmannschaft Oschatz (heute Kreis Torgau-Delitzsch-Oschatz). Wir Jungen entdeckten als erste, daß in diesem kleinen Dorf eine Wehrmachtseinheit stationiert worden war, die Verteidigungsausbildung machte. Sehr erstaunt stellten wir fest, daß es sich ausschließlich um bisherige Brückenkopf- und Fort Zinna-Insassen aus Torgau handelte, die für „wehrwürdig“ erklärt worden waren und im übrigen sehr schnell ihre Waffen zum großen Teil unbrauchbar machten und das Weite suchten. Wir dagegen eigneten uns einige dieser Waffen an und richteten  uns auf Kampfhandlungen ein. Als die Bauern merkten, daß wir Waffen in ihren Scheunen versteckt hatten, setzte es eine gehörige Tracht Prügel, denn sie wußten, was für eine große Gefahr das für sie bedeutete. Damit war der „Krieg“ für uns zu Ende. Nach mehrfachem Wechsel der gerade in Schöna und Umgebung „Herrschenden“ (an Hitlers Geburtstag kamen die Amerikaner, dann wieder Waffen-SS, schließlich die Sowjetarmee) begannen Flüchtlingszüge in verschiedensten Richtungen durchs Dorf zu ziehen. Von ihnen brachte ich die Botschaft zu meiner Mutter: die Torgauer Brücken seien gesprengt, und auf den brennenden Trümmern der Stadt hätten sich Russen und Amerikaner getroffen. Meine kindliche Forderung: wir müssen sofort nach Hause und nachsehen, ob das stimmt! Der aus einigen Frauen gebildete Spähtrupp brachte die Nachricht aus Torgau zurück, es sei schlimm, aber nicht so schlimm, wie in den Gerüchten behauptet. Damit kehrte unser Handwagenzug in die Heimat zurück.

Ende April/Anfang Mai 1945 trennte die Elbe mit ihrer zerstörten Brücke auch für Stunden die zwar alliierten, aber dennoch grundverschiedenen gesellschaftlichen Systeme dieser Welt und ihre Streitkräfte (die Konferenzen von Teheran 1943 und von Jalta 1945 verhinderten, daß hier die „Zonengrenze“ hingelegt wurde!). An den schon erwähnten zunächst relativ ungefährlichen Begriff des „Drüben“ von damals mußte ich später oft denken, wenn ich am kubanischen Ufer gegenüber Florida oder an den Grenzflüssen zwischen Nord- und Südkorea, Indien und Pakistan,  zwischen Syrien und dem verfeindeten Irak oder an verschiedenen afrikanischen Grenzflüssen, die nicht befreundete Staaten trennten, stand.


Schlimmes erwartete uns bei unserer Rückkehr. Schon von weitem sah man, über die Loßwiger Wiesen dahintrottend, die Umrisse der zerstörten Straßen-Elbbrücke. Unser Haus war von zwei „Stalinorgel“-Geschossen getroffen, Teile unserer Wohnung dementsprechend ohne Zimmerdecken. Die übrige Wohnung war ausgeplündert. Vater war unauffindbar. Erst nach einiger Zeit gab es Augenzeugenberichte, daß er „Panzerfäuste“ mit einem Pferde- fuhrwerk von der Gaststätte „Preußischer Hof“ in der Bäckerstraße zu den Volkssturm-Männern, die die Elbbrücke verteidigen sollten, zu tranportieren hatte und dabei durch einen Artillerievolltreffer schwerverwundet worden war. Sein  von uns nur allmählich erkundeter Fluchtweg führte, nachdem ihm beide Beine ohne medizinische Hilfsmittel „amputiert“ worden waren, durch die Roitzscher Heide zur Mulde-Brücke in Bad Düben, wo die amerikanische „Zone“ damals begann. Schließlich in Halle aufgefunden und mit einem Fahrzeug seines langjährigen Betriebes, der Firma F. H. Schmidt, nach Torgau ins Lazarett transportiert, verstarb er im November. Ein für uns tragisches Opfer aus den Reihen der letzten „Verteidiger“ der Brücke.

Auf den Trümmern der Brücke hatten sich die jeweiligen Spitzen-Trupps der Siegermächte, der 1. Ukrainischen Front der Sowjetarmee (der letzte Begegnungsveteran, Alexander Silwaschko, Ehrenbürger der Stadt Torgau, verstarb am 26.1.2010) und des 5.  Korps der  1. US-Armee, die Hände gereicht. Die Bilder gingen um die ganze Welt und sind im Prinzip jedem bekannt. Zu diesem Photo mit den Siegerposen auf den Trümmern der Torgauer Brücke spannte sich für mich eine Gedankenbrücke über 44 Jahre und Tausende von Kilometern hinweg  in einem Augenblick, als eine der Siegermächte von damals die in ihrer Geschichte wohl schlimmste und verlustreichste Niederlage seit dem Ende des 2. Weltkrieges hinnehmen mußte. Ich befand  mich in unmittelbarer Nähe des Geschehens. Ich folgte der Einladung des Generaldirektors des Institute of Strategic Studies (ISS) in der pakistanischen Hauptstadt Islamabad, Generalleutnant Matinuddin,  den ich auf einer internationalen Tagung in Berlin kennengelernt hatte. So ergab sich für mich am 15.2.1989 die Gelegenheit, auf einer Zusammenkunft des Konflikt- und Krisenanalyse-Teams des pakistanischen Generalstabs mit den Führungen der Teilstreitkräfte und in Anwesenheit westlicher Botschafter und Diplomaten am Bildschirm die Originalübertragung des Abzugs der sowjetischen Truppen vom Territorium Afghanistans mitzuerleben. Da war zu sehen, wie der Befehlshaber der 40. Armee, General Boris Gromow, allein als einzelner und als letzter in Demut vor der Geschichte zu Fuß seinen Soldaten folgend über die Planken der Brücke schritt, die über den Amu Daria nach Usbekistan führte.

Doch zurück in das Torgau des Jahres 1945. Dort kam langsam das kommunale Leben wieder in Gang. Jeder, der eine Karte für den Empfang von Lebensmitteln haben wollte, mußte sich für öffentliche Arbeiten zur Verfügung stellen. Das traf auch auf uns Zehnjährige zu. Wir hatten die Wahl zwischen Rübenverziehen auf einem der großen Güter oder Räumarbeiten im Schloß Hartenfels, was ich für die interessantere Variante hielt. Und so schleppten wir 8,8cm-Flakgranaten aus dem Keller des Flaschenturms zur Ufermauer unmittelbar neben der Brücke, wo sie – entsprechend einer Anweisung – über das Gitter in den Fluß gestürzt werden mußten. Als „Spezialisten“ wußten wir natürlich, daß die Zünder entfernt worden waren, nicht so die erschreckten Bürger, die aus der Ferne unserem Treiben zusahen. Offenbar zur Kontrolle tauchten ab und zu auch einmal zwei mir Bekannte mit weißen Armbinden auf, auf denen „Dezernent“ geschrieben stand: mein Fahrradhändler Max Listing (Kommunist) aus der Schulzenstraße (später Holzweißig-Str.) und mein langjähriger Friseur Wilhelm Blöding (Sozialdemokrat) aus der Schloßstraße. Das machte mir die neue Macht etwas vertrauter.

Im Juli passierten das amerikanische und das britische Kontingent der Berlin-Besatzung die Behelfsbrücke, wobei wir manche Stunde dort und nicht im gerade wieder begonnenen Unterricht verbrachten.

 In den folgenden Monaten entschied sich an der Elbbrücke und jenseits des Flusses, ob wir viel oder etwas weniger Hunger hatten. Denn drüben lagen die Gutsfelder, auf denen wir oft in kleinen Gruppen Ähren lesen oder Kartoffeln stoppeln gingen.Unweit der Brücke, deren Trümmer bis September beseitigt waren, am Fürstenweg (später Pestalozzi-Weg) gab es noch eine andere „Versorgungsquelle“ in Gestalt von Frachtkähnen, die mit Rüben beladen wurden, wobei ab und zu eine gestibitzt werden konnte. Daraus zauberte Mutter etwas für die Schnitten.


Im April 1946 wurde die uns altvertraute Brücke, nun wieder mit einem Pfeiler in der Flußmitte, für den Verkehr freigegeben. Wie viele Male habe ich sie in den folgenden Wochen passiert, ohne jeden Grund und ohne ein Ziel, einfach, um ihr „Guten Tag! Ich bin wieder da“ zu sagen. In diese Zeit fielen noch einige Ereignisse, die sich mir fest einprägten, eben weil sie mit der Brücke verbunden waren.

Ein nicht gerade ungefährliches Faible, geboren aus der Kriegszeit, beschäftigte mich in dieser Zeit – Waffen. Auf unserem Hof hatte sich während unserer Fluchtzeit offenbar ein „Goldfasan“, wie die Träger der braunen Parteiuniform genannt wurden, seiner Kleidung und einer Leuchtpistole entledigt. Erstere wurde entsorgt, die Waffe  auf dem Boden versteckt und ab und zu immer mal aus dem Versteck hervorgeholt. Und mein Klassenkamerad Erhard Worch aus der Saarlandstraße bot ferner ein funktionsfähiges Luftgewehr nebst Munition zum Tausch gegen zehn Sätze Skatkarten an, die ich wiederum in Massen hatte. Auch die Gaststätte in unserem Haus war zwar geplündert worden, aber ungezählte Packungen mit fabrikneuen Skatkarten hatten die Räuber nicht interessiert, weshalb sie im ganzen Haus herumgelegen hatten. Das strenge Verbot von Waffenbesitz, auf den in der Regel in unserem Alter die Einstufung als „faschistischer Werwolf“ und harte Strafen vor einem sowjetischen Militärtribunal drohten, ließen mich doch während des heimlichen Waffentransports Richtung Fischerstraße leicht zittern, aber . . .  Mehrmalige Schießübungen auf unserem Boden machten regelrecht Spaß und ließen uns alles um uns herum vergessen. Aber die Zahl der Verhaftungen in unserer Straße, oft ohne angegebene  Begründung,  nahm allmählich zu: Nachbar Kmetsch von nebenan, Altbäckermeister Kümmel von gegenüber, Herr Schreiber aus der Nr.1  u.a. So kam es zu dem aus der Angst geborenen Entschluß, die Pistole und das Luftgewehr zu „entsorgen“. Und damit kam die Elbbrücke wieder ins Spiel. Die regelmäßigen Brückenbesuche wurden dazu benutzt, zunächst die Nazi-Pistole verpackt über das Geländer in die Fluten zu werfen. Weil das gut geklappt hatte, nahm auch das Gewehr, zerlegt in seine Teile und in Sackleinen eingewickelt, diesen Weg. Das ist die Story vom zweiten und dritten „bewaffneten“ Gang über die Elbbrücke. Der vierte erfolgte übrigens später legal als Offizier der Luftstreitkräfte der DDR mit der Kommandierung zu einem Scharfschießen in Annaburg. Und die fünfte angekündigte „bewaffnete“ Fahrt über die Elbbrücke war weit harmloser. Im Februar 1984 lud mich der damalige Direktor der Erweiterten Oberschule Torgau, mein Freund Dieter Baier,  wie schon oft vorher, zu einem aktuellen Vortrag vor Lehrern und Schülern über Probleme meiner Auslandsarbeit ein , den ich mit einem Anschauungsstück zu untermalen gedachte. Es handelte sich um eine afghanische Reiterflinte, ein Geschenk des dortigen  Verteidigungsministers an mich, das ich nur mit einigem Trouble von Kabul via Moskau(!) via Schönefeld(!) nach Hause transportiert hatte. Das Gewehr führte ich für diesen Zweck  in meinem PKW mit, gelangte damit auch über die Elbbrücke, vergaß allerdings im Eifer des „Gefechts“, es mit in den Vorlesungsraum zu nehmen!


Im Verlauf des Jahres 1946 gerieten meine Brückenpassagen in eine wesentlich produktivere Sphäre. An der Stelle, wo wir früher am Brückenkopf rodelten und wo ich, wie erwähnt, meinen Einsatz beim Bau von Panzergräben ableisten mußte, hatte man nach dem Zusammenbruch die Akten der Militärgerichtsbarkeit Fort Zinna/Brückenkopf einfach in die Gräben geschüttet und nicht einmal abgedeckt. Dort begann ich, an allem, was mit der Torgauer Geschichte und dem Schicksal der Brücke zusammenhing, interessiert, mein erstes „Geschichtsstudium“. Nicht alles war noch gut erhalten, als ich diese Fundgrube entdeckte. Und das meiste war auch arg durcheinander geraten. So viele Akten – so viele Menschenschicksale! Leider konnte ich nicht verfolgen, was mit den Akten geschah. Erst 1958/59, als ich amtierender Kreisschulrat in Torgau war, holte mich das Problem noch einmal ein. Es kam zu einer intensiven Befragung durch Mitarbeiter der Kreisdienststelle des MfS Torgau und einer kurzen Ortsbesichtigung an der Brücke, da nach einer Reihe ganz bestimmter Akten (u.a. zur U-Boot-Besatzung des Kapitänleutnant Günter Prien)   gesucht wurde, wobei ich natürlich nicht behilflich sein konnte.

In der Zeit des Besuchs des Gymnasiums (der späteren EOS) ab 1948 wickelte sich ein Teil unserer Freizeitbeschäftigung auf dem Fluß ab. Ich erinnere mich noch gern an die abwechslungsreichen, aber strapaziösen Kanu-Fahrten mit Kalle Krause bis Belgern gegen den Strom, bei denen man am Abend nach den Anstrengungen des Tages froh war, die Brücke auftauchen zu sehen, denn dann war das heimatliche Bootshaus bald erreicht. Auch das  Schwimmen von den Buhnen flußaufwärts aus  und das Überqueren der Elbe erforderten anfangs einigen Mut, machten aber großen Spaß. Dabei passierte es schon manchmal, daß man den rechtzeitigen Ausstieg wegen der Strömung oder des falsch kalkulierten Tempos von Schleppzügen verpaßte und ungewollt auf die Brücke zutrieb, was dann einen relativ weiten Weg zu Fuß zurück in die Buhnen bedeutete. Im Evangelischen Jungmännerwerk traf man sich ab Ende 1948 auf Plätzen rund um Kirche und Schloß sowie an der Brücke mit interessanten Referenten aus der Leitung in Magdeburg-Sudenburg, deren Tätigkeit aber bald in die staatsfeindliche Ecke gestellt wurde. Und selbst mit der ersten großen Liebe Inge H. führte der Weg von den Schülerbällen im „Kaffeegarten“ über den Hafendamm, an der Elbbrücke verweilend, nach Hause.

Eine andere, recht bescheidene Brücke prägte sich in dieser Gymnasiastenzeit in mein Gedächtnis ein, nämlich die über den Teltow-Kanal, die wir als FDJler der Torgauer Oberschule erstmals in Richtung Westberlin mit dem LKW überquerten, um an Feierlichkeiten zur Gründung der DDR 1949 und bald danach zum 75. Geburtstag Wilhelm Piecks  teilzunehmen. Diese Brücke sah ich dann erst viele Jahre später wieder, als nach 1989 Grenzen plötzlich nicht mehr existierten und ich diesen Weg von meinem Wohnort nach Berlin oft fuhr, so auch um an der Vorbereitung und Gründung solcher gemeinsamer entwicklungspolitischer  Nichtregierungsorganisationen mitzuwirken wie German Watch und die gegen internationale Korruption, besonders in der Dritten Welt, gerichtete Transparency International, zu deren  Gründungsmitgliedern ich bald nach der „Wende“ gehörte.

Und noch ein weiteres Mal war die Torgauer Brücke Ende 1950 Ort vertrautester „Gespräche“ mit ihr, die Klarheit in einer schier aussichtslosen Situation schaffen sollten. Die finanzielle Situation in der Familie, die nur durch meine Mutter ernährt werden mußte, hatte sich arg verschlechtert, was durch weitere Jahre Schulbesuch nicht erleichtert worden wäre. Eine Vielzahl ehrenamtlicher gesellschaftlicher Verpflichtungen an der Schule und darüber hinaus trugen zu nichtgewohnten, aber selbst verschuldeten Leistungsabfällen bei. Auch der Besuch der Landesjugendschule auf Burg Wettin 1950, von der aus man nebenbei gesagt auf keine Brücke, sondern lediglich auf eine Fähre blicken konnte, verbesserte die Lage nicht gerade. Und so saß ich denn einen ganzen Tag am Fuße einer Treppe unterhalb der Elbmauer am Platz der Fischerboote, quasi gegenüber der Brücke. Die Frage war Abitur oder Schulabbruch in der 11. Klasse. Angebote von Leuten, die es gut meinten, sprachen von einer Verwaltungslehre im Landratsamt, andere  hatten weitere Ideen.  Aber davon war ich nicht begeistert.


Tätigkeit im Schuldienst


Kurze Zeit danach hatte der angesehene Pädagoge und Schuldirektor Erhard Trapp, der mich

aus der Arbeit mit Kindern in einigen Ferienlagern u.ä. kannte und mir „eine pädagogische Ader“ verhieß, einen konstruktiven Vorschlag. Und auch für einen Studiengang ohne Abitur hatte er eine Lösung: ich solle doch Lehrer werden! Das Studium begann am 4.1.1951 als Sonderstudium in Halle aufgrund des damaligen Lehrermangels. Auf diesem Wege wurde ich danach einmal statistisch jüngster Lehrer in der DDR und konnte später Erfahrungen als Lehrer und Direktor in Land-, Zentral-, Ober-, Betriebs-  und Erweiterten Oberschulen sammeln und daneben die erforderlichen Qualifikationen für die Unter-, Mittel- und Oberstufe im Fernstudium erwerben. Ob die Brücke sich noch an unsere „Gespräche“ erinnerte und daran, wie verzweifelt ich am Anfang dieses Weges war ?

Eines schönen Tages überquerte ich die Elbbrücke, um nach Berlin zu kommen und von dort als Mitglied einer großen Lehrerdelegation zum ersten Mal die Sowjetunion zu besuchen.  Alles was man in diesem Lande in den Schulen und außerhalb derselben zu sehen bekam, war für mich als jungen Lehrer schon beeindruckend. Auch dort führte mich der erste freie Abend an die Moskwa-Brücken. Auf der abendlichen Brücke in der Nähe des Kreml kamen mir eigenartige Gedanken aus meiner Kindheit, die mein erstes SU-Bild geprägt hatten. Da waren gegenüber der Torgauer Elbbrücke am Brückenwärterhaus die Plakate mit den heranstampfenden Rotarmisten mit ihren Pickelmützen, die umgekippte Kinderwagen niedertraten, und blutende Kinder, die an der Bordkante lagen. In der Breiten Straße (damals Hermann-Göring-Str.) wurde in einem großen Schaufenster Reklame gemacht für die Ausstellung „Das Sowjetparadies“ mit furchterregenden Bildern. Und in der Buchhandlung Huth am Markt lag an herausragender Stelle ein Buch von Karl Albrecht „Der verratene Sozialismus“, dessen Umschlag ebenfalls Schlimmes vermuten ließ und in dem ich im Laden verstohlen geblättert hatte. Aus Moskau kehrte ich mit der Gewißheit zurück, daß in diesem Land  viel Großartiges geschieht. Die „geheimen“ Wahrheiten des XX. Parteitags fielen so bei mir auf einen ganz spezifischen Boden, der die erforderliche Differenzierung nicht gerade erleichterte.

Die nächste Etappe meines Lebens brachte mir einen ständigen Arbeitsplatz im Schloß Hartenfels, von dem ich die Brücke direkt oder aus dem Nebenzimmer ständig sehen konnte. Es handelte sich um etliche Jahre Tätigkeit in der Abteilung Volksbildung des Rates des Kreises, eine Tätigkeit, die mir fast immer Spaß machte und in der ich in verschiedenen Funktionen eine große Zahl hervorragender fleißiger Lehrer und Erzieher im Kreis Torgau   kennenlernte. Darunter waren auch Jahre als Abgeordneter des Kreistages, die mir diesseits und jenseits der Elbbrücke (wo übrigens meine spätere brandenburgische und schließlich Bundes-Wissenschaftsministerin Prof. Dr. Johanna Wanka in Rosenfeld bei Frau Biggen die Unterstufen-Schulbamk drückte) viele neue Erfahrungen brachten. Als vom Kreistag berufener Leiter der Kreisschulinspektion hatte ich als Vorgesetzten den Leipziger Bezirksschulinspektor Heinz Hensel (später Vorsitzender des Rates des Kreises Torgau), der am Morgen unsere Arbeit kontrollierte und Erfahrungen vermittelte, aber in der zweiten Hälfte des Tages grundsätzlich nicht mehr auffindbar war. Nach einiger Zeit kriegten wir mit, daß es ihn als ehemaligen Seemann an die Elbe und speziell an den Hafen zog, wo er stundenlang sitzen und dem dortigen Geschehen zusehen konnte. Damals dachte ich immer, daß ich mir eigentlich einen solchen Ruheplatz an „meiner Brücke“ auch wenigstens ein Mal im Monat gönnen sollte.


Den besten Guckposten direkt über der Brücke hatte die  Vorsitzende des Rates des Kreises, „Mutter“ Eleonore Hanzlitschek. In einem Erker, von dem aus man die Brücke gut sehen konnte, stand ein Tisch, an dem einem ab und zu Wichtiges mitgeteilt wurde. Manchmal ging man erfreut, manchmal aber auch bedrückt von dannen. So war die Brücke bei verschiedenen Aufs und Abs meiner Tätigkeit dabei und machte manchmal den Eindruck, als wolle sie mir Glück wünschen oder mich trösten. Hier erfuhr ich am Silvestertag 1958 erfreut, daß eine Disziplinarstrafe wegen des Verlusts eines Petschafts bei einem Autounfall mit dem Dienstwagen bei Glatteis in der Nähe der Elbbrücke vorzeitig gelöscht wird. An diesem Tisch wurde mir auch „kollegial“ mitgeteilt, daß das bevorstehende Kreisparteiaktiv in der Glashütte mir einen Verweis aussprechen werde, weil ich in meinem Wahlkreis Belgern - in Abweichung von einem Beschluß der Kreisleitung der Partei -  einem von den Bauern vorgeschlagenen Standort für einen Rinderoffenstall zugestimmt hatte, was damals als „Zurückweichen vor reaktionären Kräften“ deklariert wurde. Die für mich unangenehmste Rolle an diesem Tisch über der Brücke  hatte ich 1958 als Beisitzer bei der Entlassung des von mir hochgeschätzten  Direktors der Erweiterten Oberschule, Erhard Trapp, aus „disziplinarischen Gründen“ durch die Vorsitzende des Rates des Kreises zu spielen, obwohl ich als einziger aus der Leitung der Abt. Volksbildung mit dieser Angelegenheit absolut nichts zu tun gehabt hatte. Schulrat und 2. Stellvertreter hatten sich aber jeder einen „überdurchschnittlich wichtigen Termin“ besorgt, um dem Akt nicht beiwohnen zu müssen, den sie selbst herbeigeführt hatten. Noch heute schäme ich mich für diesen tragischen Nachmittag und dafür, daß ich nicht offiziell dagegen protestiert habe.

An diesem Tisch im Erker hoch über der Brücke erfuhr ich auch, daß ich wegen eines Verstoßes gegen das Parteistatut aus der SED ausgeschlossen und fristlos entlassen werden würde und daß mir mein Abgeordnetenmandat des Torgauer Kreistags aberkannt wird. In den folgenden Monaten verdiente ich meinen Lebensunterhalt als Dreher im Torgauer Landmaschinenbau, leitete ehrenamtlich die dort von mir aufgebaute Betriebsoberschule und lernte im Patendorf der Landmaschinenbauer Mockritz interessante gesellschaftliche Prozesse in der landwirtschaftlichen Produktion kennen. Und einige Monate später, nachdem das Verfahren gegen mich in den wichtigsten Positionen rückgängig gemacht worden war, teilte man mir an dem erwähnten Tisch mit, daß mir mein Abgeordnetenmandat wieder zuerkannt worden war und ich mich  als Stellvertretender Bürgermeister und Stadtrat für Volksbildung der Gneisenaustadt Schildau zur Wahl zu stellen habe. Bei all diesen Gesprächen war ich faktisch nie allein. Die Brücke war  immer zumindest  in Blickkontakt mit mir. Meine Schildauer Tätigkeit schloß übrigens Erfahrungen bei der Leitung der Vorbereitung und Durchführung der Feierlichkeiten anläßlich der Enthüllung des neuen Gneisenau-Denkmals im Oktober 1960 ein, die ich nicht missen möchte.

Bei einer Spazierfahrt am Sonntag, dem 16.6.1963, , die an der Brücke begann, hörte ich, daß Valentina Tereschkowa  als erste Frau der Welt mit Wostok 6 in den Weltraum gestartet war. Später habe ich meinen alten Freund, Fliegerkosmonaut Generalmajor a.D. , Dr. Sigmund Jähn, gefragt, ob er Objekte wie die Torgauer Elbbrücke oder gar diese selbst aus dem All gesehen habe. Nach einer Konsultation mit dem seinerzeitigen wissenschaftlichen Flugleiter auf der DDR-Seite, Herrn Marek, bestätigten mir beide, daß unsere Brücke auf Grund ihrer Lage am Rande der Stadt auf jeden Fall deutlich sichtbar und erkennbar ist. Am Tage der Aufnahmen herrschten jedoch derart ungünstige Nebelbedingungen, daß  lediglich Partien des Darß/Zingst deutlich auf dem Filmmaterial zu sehen waren.


Wissenschaft und Entwicklungspolitik


Mit der Aufnahme einer außerplanmäßigen Aspirantur bei Prof. Dr. Walter Markov, dem Nestor der DDR-Afrikanistik und Direktor des Afrika-Instituts der Leipziger Universität, 1964 und dem Ausscheiden aus dem Torgauer Schuldienst ein Jahr später eröffnete sich mir ein neuer Abschnitt meines beruflichen Lebens: nämlich die wissenschaftliche Tätigkeit in der Lehre/Ausbildung/Weiterbildung (für diplomatische und andere Kader aus der DDR und aus Staaten der Dritten Welt) und in der Forschung auf dem Gebiet der Entwicklungsländer Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Das bedeutete, die akademische „Tippeltour“ mit Promotion, facultas docendi, Habilitation vom Wissenschaftlichen Oberassistenten bis zur Professur mit Lehrstuhl und funktionell bis zum Institutsdirektor zu durchlaufen. Dieser Einschnitt bedeutete natürlich auch die Trennung von meiner Torgauer Brücke. Positiv betrachtet wurde sie für mich aber eine Art Brücke in die weite Welt.  Diese Tätigkeit führte mich naturgemäß in viele Länder der verschiedensten Regionen. Und überall gab es interessante Brücken, die es mir ermöglichten, mein gedanklich-fiktives, virtuelles „Spinnennetz“ mit der Torgauer Elbbrücke im Zentrum weiterzuspinnen und ständig auszubauen.

Im Februar 1983 bereiste der afghanische amt. Ministerpräsident Dr. Abawi, der gleichzeitig Präsident der Freundschaftsgesellschaft Afghanistan-DDR war, unser Land. Ich wurde ihm als sogenannter Ehrenbegleiter zugeteilt. Abawi, der ein brilliantes Deutsch sprach, kannte den historischen Ort des Treffens an der Elbe vom Hörensagen. Was lag näher, als daß ich die Fahrt von Berlin nach Suhl über die Torgauer Brücke leitete. Mit meinen etwa  zwanzig Worten Paschtu begrüßte ich ihn in seiner Landessprache in meiner Vaterstadt zwischen Brücke und Begegnungsdenkmal.

Alle Stationen meiner „Brückensammlung“ können keineswegs aufgezählt werden. Schon 1970 passierte ich zum ersten Mal die Nil-Brücken zwischen der sudanesischen Hauptstadt Khartum und Omdurman, wo ich nebenbei gesagt mir gut bekannte Torgauer Polizei-Ausbildungsoffiziere vom Fort Zinna im Staatsgefängnis antraf, in dem der (west-)deutsche Söldnerführer Steiner seinem Prozeß entgegensah. Bei diesem Besuch waren der sudanesische Volkstribun und Gewerkschaftsführer Shafi el Sheik gemeinsam mit uns Ehrengast bei der Auszeichnung von Präsident Nimeri mit dem Internationalen Lenin-Friedenspreis. Im folgenden Jahr kam es während meines zweiten Besuchs zu einem von den Gewerkschaften und anderen Linken unterstützten Militärputsch gegen Nimeri, der damit endete, daß Shafi in der Nähe dieser Brücke auf Befehl Nimeris als erster fast vor unseren Augen gehängt wurde.


Auf der Liste der Zeit standen bald die Nil-Brücken in Kairo, wo ich unser Land  auf einer Konferenz der Nichtpaktgebundenenbewegung zum 20. Jahrestag der Bandung-Konferenz 1975 mit einer Ansprache vertreten durfte. Dem schlossen sich zahlreiche andere Brücken in Islamabad, Schanghai, Kuala Lumpur und Jakarta, in Kapstadt, Windhuk und Daressalam, in Rio de Janeiro und in vielen anderen afro-asiatisch-lateinamerikanischen Ländern an.

Bei meinem ersten Besuch in Panama 2006, dem glücklicherweise ein persönliches Gespräch mit Staatspräsident Martin Torrijos unter vier Augen  folgte, lernte ich eine der längsten und höchsten Brücken kennen, die Puente de las Americas – die Brücke beider Amerikas (1670 m lang, 118 m über NN), über die von Alaska bis nach Feuerland die Panamericana führt. Sie ließ die Torgauer Brücke  wie ein brückentechnisches Kleinstkind erscheinen.

Im Frühjahr 2009 führte mich eine Feldstudien-Reise in die südamerikanischen Staaten Peru, Ekuador und Panama sowie in die Dominikanische Republik, also Länder, die in den letzten Jahrzehnten mehrere Jahre  von progressiven Militärregimes regiert worden waren, deren seinerzeitige und heutige Bewertungsaspekte mich interessierten. In der zweitwichtigsten Stadt Ekuadors Guayaquil verbrachte ich mit ekuadorianischen Freunden lange Zeit mitten auf der Puente de la Unidad Nacional – der Brücke der nationalen Einheit, die über den mächtigen Rio Guayas führt. Für sie verkörperte die scheinbar nicht endende Brücke das mahnende Symbol der Geschlossenheit ihres Volkes im Kampf um eine fortschrittliche Gesellschaft, für die gerade ganz in der Nähe gewählte Vertreter eine neue weitreichende Verfassung verabschiedet hatten. Für mich spannte sich der gedankliche Bogen zu meiner heimatlichen Brücke am Elbe-Fluß und zu den Menschen in ganz Deutschland, für die gerade zur gleichen Zeit viele Fragen ihrer nunmehr gesamtstaatlichen Entwicklung offenbar einer neuen Beantwortung harrten.

 

Nach der „Wende“ öffneten sich auch Tore der westdeutschen und westeuropäischen Brückenstädte. Beim Anblick einer der Rheinbrücken in Basel fiel mir eine gewisse Ähnlichkeit mit der Torgauer Brücke von 1666 auf – so etwa mußte sie mit ihrer Überdachung ausgesehen haben. Über diesen Anblick hätte ich fast vergessen, daß ich eigentlich wegen eines anderen Ereignisses nach Basel gereist war: ich wurde als erster und lange Zeit einziger ostdeutscher Wissenschaftler auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik aufgenommen in den IAfEF (Interdisziplinärer Arbeitskreis für Entwicklungsländerforschung der deutschsprachigen Länder) und hatte meinen Beitrag zum Thema „Krisenkontinent Afrika“ zu halten. Daß mir wenige Jahre später die Präsidentschaft des IAfEF angetragen wurde, sprach sicher einerseits für die Wertschätzung, die die Entwicklungsländerforschung der DDR genossen hatte. Andererseits für das Ansehen, das sich das 1991 nach der „Wende“ von mir mit Unterstützung einiger Kollegen und mit dem „politischen Rückenwind“ durch den brandenburgischen Ministerpräsidenten Dr. Stolpe in Potsdam auf der wissenschaftlichen Mülldeponie der Abwicklungspolitik gegründete Brandenburgische Entwicklungspolitische Institut (BEPI)  relativ schnell erworben hatte, zunächst an der neugegründeten Universität Potsdam, bald jedoch als selbständige wissenschaftliche und praktisch-politische Einrichtung auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik/Entwicklungszusammenarbeit. Nach Einschätzung unserer damals neuen westdeutschen Freunde war BEPI ein Unikat in ganz Deutschland, das bald bundesweit geschätzt wurde und 12 Jahre lang außerordentlich erfolgreich arbeitete..

  

Eine ganz andere Reminiszenz war mit der Mainzer Rheinbrücke verbunden. Ich erhielt 1991 eine Einladung zur Tagung des Wissenschaftsforums der SPD im Großen Saal des Mainzer Schlosses, bei der ich neben einem Herren zu sitzen kam, den ich nicht kannte und der sich dann als der Rheinland-Pfälzische Ministerpräsidenten-Kandidat Scharping vorstellte, wenig später SPD-Bundesvorsitzender.  Mir kam der Raum so bekannt vor. Vor 34 Jahren, also 1957, war ich hier im hohen Bogen - geführt von zwei Ordnern -  aus dem Saal geflogen, weil ich, eingeladen zur Beobachtung der Bundestagswahlen durch die westdeutsche Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, an den Referenten, den damaligen SPD-Vorsitzenden Ollenhauer eine Frage gestellt hatte, die die Parteioberen als Provokation angesehen hatten. Den Rest der Veranstaltung verbrachte ich nachdenklich auf der Mainzer  Brückenmauer sitzend, daneben mein Fahrrad, denn die Tour Eisenach-Mainz mußte aus Mangel an Westgeld per Rad zurückgelegt werden. Natürlich erinnerte mich dies an meine Torgauer Elb-Mauerecke, die vielfach Ort des Sinnierens und Bedenkens gewesen war. Wenig später wurden Brückenbesuche in den westdeutschen Bundesländern zu einem ganz normalen Ereignis, in der Regel auch ohne die oben erwähnten spektakulären „Begleiterscheinungen“.


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Nach dem Tod meiner Mutter, die weiterhin in Torgau gelebt hatte, im Jahre 1989 und dem arbeits- und konfliktreichen beruflichen Neustart nach der „Wende“ war ich eine ganze Zeit nicht mehr in der Stadt an der Elbe. Im  September 2004 nahm ich an einem Treffen der  Ehemaligen aller Jahrgänge des jetzigen Torgauer Johann-Walter-Gymnasiums teil, dessen Programm auch eine Fahrt mit dem Bus zum Gestüt in Graditz beinhaltete. Bei dieser Tour passierte ich zum ersten Mal die neue Brücke, die als herbeigeführtes Erfordernis, in unseren Augen aber auch als moralisch-historische „Entschuldigung“ für die erwähnte Aktion gegen unsere alte vertraute Brücke, gebaut worden war. Ich erinnerte mich an meine seinerzeitige Erschrockenheit und wie mir beim Begreifen des unsäglichen Sachverhalts zumute war: plötzlich war die Brücke, mit der mich so viel in meinem Leben verbunden hatte, nicht mehr da, überhaupt nicht mehr existent. Es war, als hätte man einen langjährigen Freund verloren. Und die neue, sie ist mir emotional bis heute nicht zum vollwertigen Ersatz geworden. Gedanken, die einem besonders angesichts des herannahenden 65. Jahrestages der Begegnung auf den Trümmern der alten historischen Elbbrücke in Torgau im April kommen.