Prof. Dr. Walter Hundt, Fichtenwalde


Erschienen in: WeltTrends Nr. 72, Mai/Juni 2010 , S. 119-121


Matthes, Helmut (2009), Misere und Zukunft des subsaharischen Afrika, Saarbrücken, Südwestdeutscher Verlag für Hochschulschriften, 168 S., 14 Tab., 2 Anhänge


Lebendiger Kontinent


Der vorliegende Band trägt den Untertitel „Ursachen der Misere, Afrikapolitik der neuen Etappe nachkolonialer Entwicklung, afrikanische und internationale Aktivitäten sowie Ergebnisse“ und erschien nicht ohne Grund in einem Verlag für Hochschul-Schriften. Sein Vorzug besteht in zweierlei Hinsicht: 1. der Autor ist ausgewiesener Ökonom, der auch und speziell die ökonomischen Probleme der Dritten Welt und hier wiederum besonders des subsaharischen Afrika beherrscht, was ergänzt wird durch vieljährige Erfahrungen in Lehre und Forschung sowie in der diplomatischen Praxis; 2. seine Arbeit fällt in eine Zeit erhöhter politisch-wirtschaftlicher Wahrnehmung akut aktueller afrikanischer Probleme jenseits der üblichen Berichterstattung über Naturkatastrophen, Aids und Massenkorruption und der erschreckenden Hiobsbotschaften über Bürgerkriegswirren mit Millionen von Toten, obwohl selbst diese Erscheinungen nicht losgelöst vom Gegenstand des Buches gesehen werden können.


Nacheinander behandelt Matthes die äußeren und inneren sowie die allgemeinen (historische Rückständigkeit, kapitalistisches Gesellschaftssystem) und speziellen Ursachen der Misere (Kolonialismus und koloniales Erbe, postkoloniale Entwicklungs-wege, neokoloniales Wirken, Kalter Krieg). Im Streit um die derzeitige Vorrangigkeit des Wirkens der inneren oder der äußeren Faktoren als Ursachen der Misere und um die Berechtigung oder Nichtberechtigung des Begriffs Neokolonialismus entscheidet sich Matthes für den von ideologischen Vorbelastungen befreiten Neokolonialismus-Begriff und die exogenen als Hauptfaktoren, wobei die inneren dennoch ausgewogen kalkuliert werden.


In einem zweiten großen Komplex wendet er sich den neuen Bedingungen und Herausforderungen unserer Zeit, bezogen auf Afrika, zu (Rohstoff- und Energieversorgung, Ernährungskrise, Folgen der Finanzkrise und der Weltwirtschaftskrise, Umweltgefährdungen). Im Norden setzte ein Prozeß der Neubesinnung auf Afrika ein, und auch Konkurrenten wie China und Indien treten dabei auf den Plan. Alle Beteiligten formulieren strategische Interessen gegenüber dem afrikanischen Kontinent. Afrika selbst leitete eine neue Etappe seiner postkolonialen Entwicklung ein. Ausdruck dafür sind das NEPAD-Programm und die aus der OAU hervorgegangene AU, die immer mehr zu einem Initiator der Umsetzung des NEPAD wird. Der Autor analysiert die Dokumente und Strukturen des NEPAD, den erreichten Stand der Umsetzung  des von der Sonder-Vollversammlung der UNO  im Jahr 2000 beschlossenen Millenniumsprogramms (MDG) - mit seinen  8 Millenniumszielen und ihren 18 Teilzielen für den Zeitraum 1990 bis 2015 - sowie das Wirken der G 8, der sog. Bretton-Woods-Institutionen, der EU und generell der BRD in Afrika. Wie in der gesamten Publikation versucht der Autor, sich - soweit machbar - auf den subsaharischen Raum zu begrenzen, ohne eine (in Wirklichkeit kaum umzusetzende, absolut anmutende) Abgrenzung vom arabischen Norden des Kontinents zu erzwingen. Bei der Arbeit mit dem umfassenden statistischen Material ist die inzwischen grassierende weltweite Krise zu berücksichtigen.


Am Beispiel der UN-Konferenz mit einer großen Anzahl von Staaten der Welt, die 2002 zum  Monterrey Consensus führte, schaltet sich der Autor in den seit Jahrzehnten immer wieder neu aufflammenden Streit über den Platz und die Effektivität der sogenannten „Entwicklungshilfe“ ein (schon allein der Begriff stößt seit langem auf massive Ablehnung der Nichtregierungs-organisationen!). Die Debatte dreht sich darum, ob „EH“ ein generell verfehltes Konzept enthält, bisher trotz relativ hoher Aufwendungen nichts erreicht hat, oder aber ob sie dennoch einen gewissen Beitrag zur Entwicklung geleistet hat, nicht undifferenziert kritisiert werden soll und im Interesse einer höheren Effektivität mit verändertem politischen Konzept reformiert werden müsse.


Die Grundzüge einer neuen Entwicklungspolitik Afrikas werden mit der Kenntnis einer gründlichen Auswertung der neuesten Veröffentlichungen einer kritischen Analyse unterzogen. Dabei praktiziert der Autor eine bemerkenswert differenzierte Sicht der nahezu unbegrenzten Vielzahl von neuen und „neuen“ Vorschlägen, Ideen und Theorien, ohne „alles Bisherige“ aus dem Auge zu verlieren und darauf zu verzichten. Logischerweise  wird dem Leser die zum Leidwesen der afrikanischen Entwicklungsländer herausgebildete neoliberal-globalistische Realität, die nicht selten als „unumgänglich“ angesehen wird, als Zielscheibe des notwendigen Wirkens fixiert. Bemerkenswert spürt man beim Studium des von Matthes vorgelegten wissenschaftlichen Materials eine (bei einer Vielzahl von Autoren oft zu vermissende oder gar verpönte und verleumdete) realoptimistische Grundhaltung, die trotz aller Rückschläge und Stagnationstendenzen keine Zweifel an der Möglichkeit von Fortschritten hegt. Der These vom „sterbenden Kontinent“ erteilt er eine eindeutige Absage. Zusammenfassend stellt Matthes 7 Entwicklungstrends zur Diskussion.


Der folgende Komplex untersucht die veränderte und sich weiter verändernde politische und wirtschaftliche Entwicklung der afrikanischen Staaten, ihre Gemeinsamkeiten und ihre Unterschiede sowie das Wirken ihrer multinationalen Zusammenschlüsse und Institutionen, besonders NEPAD und AU. Die Widerspiegelung dieser Prozesse in der einschlägigen Literatur wird untersucht. Die Schlußbetrachtungen sind den perspektivischen Entwicklungsaussichten des afrikanischen Kontinents gewidmet. Dabei tritt Matthes abschließend sowohl dafür ein, daß „Afrika sein Schicksal in die eigenen Hände nehmen“ muß, als auch dafür, „in der Welt für eine neue Entwicklungspolitik zu werben, die Afrika nicht zum verlorenen Kontinent werden läßt.“