Prof. Dr. Walter Hundt, Stiftung Nord-Süd-Brücken Berlin

      

Achim Reichardt, Nie vergessen - Solidarität üben! Die Solidaritätsbewegung in der DDR, Kai Homilius Verlag, Berlin 2006,

336 S.


Der vorliegende Band behandelt anhand der Entwicklung der Solidaritätsbewegung der DDR eine Problematik, zu der der durchschnittliche DDR-Bürger eine mehr oder weniger feste Beziehung hatte, mindestens über den monatlichen Erwerb einer „Soli-Marke“ bei der Bezahlung seines Gewerkschaftsbeitrags, für viele eine echte Herzenssache, die im Prinzip nie eine „Zwangsabgabe“ war, wie das nach der Wende oft von Wessi-Seite behauptet wurde. Übrigens nicht die einzige Richtigstellung, die die Studie faktenmäßig fundiert und kenntnisreich vornimmt und damit gegen die auch dieses Gebiet einschließenden Delegitimierungsbestrebungen angeht. Deshalb ist Reichardts Buch auch die beste Antwort auf die sich aus dem erwähnten Sachverhalt ergebende Frage vieler ostdeutscher Neu-Bundesbürger nach dem Verbleib dieser Millionen nach dem Ende der DDR. Die Behandlung der Solidaritätsarbeit als ein wichtiges Gebiet der internationalen Aktivitäten der DDR stellt neben der Vermittlung der Zusammenhänge auch eine längst fällige Würdigung von Millionen solidarischer Menschen mit ehrlicher Motivation dar.


Jeder, der sich künftig historisch oder politisch mit dieser Thematik beschäftigen will,  wird an Reichardts Untersuchung nicht vorübergehen können. Der Autor erscheint uns als für diese Analyse geradezu prädestiniert, fungierte er doch - nach 25jähriger Tätigkeit im diplomatischen Dienst in Ländern der Dritten Welt - acht Jahre als der letzte Generalsekretär des Solidaritätskomitees der DDR und zwei weitere Jahre als der erste Geschäftsführer der Nachfolgeinstitution Solidaritätsdienst-international e.V. (SODI) nach der Wende. Aus dieser Lebenserfahrung resultieren seine hier und da in den Buchtext eingestreuten „persönlichen Bemerkungen“ aus grundsätzlicher Sicht  zur Rolle der internationalen Solidarität im allgemeinen und der Spezifik der „DDR-Solidarität“ im besonderen. Ihr Resümee mündet stets in den Appell an jeden einzelnen zum Weitermachen auf dem Gebiet solidarischen Tätigwerdens für die Völker der Dritten Welt, auch heute unter den in vieler Hinsicht erschwerten neuen Bedingungen. Der Rezensent gehörte von Anfang an zu denen, die Reichardt - vor allem unter dem Aspekt der heute unumgänglichen Nutzung fach- und sachkundiger Zeitzeugen - gedrängt haben, ein solches Buch zu schreiben.


Der in vier Kapitel und einen Anhang (Statistiken, Dokumente, Literaturverzeichnis) gegliederte Band, der mit einem Vorwort von Ministerpräsident a.D.  Hans Modrow eingeleitet wird, umfasst im wesentlichen zwei große inhaltliche Komplexe: 1. die Periode von 1945 bis 1989 (Herausbildung der Solidaritätsbewegung in Ostdeutschland bzw. der DDR) und 2. die Zeit von 1990 bis heute (Versuche zur politischen und juristischen  Zerschlagung des Solidaritätskomitees bzw. zur Abwicklung der Nachfolgeorganisation Solidaritätsdienst-international e.V. und zur Enteignung der verbliebenen Spenden der DDR-Bürger). Im Falle einer Nachauflage würde der Band durch eine chronologisch-sachliche Straffung der Kapitel 2 und 3 unter Vermeidung von Wiederholungen im Interesse der Leser und Interessenten, die keine direkten Insider sind, gewinnen.


Das 1. Kapitel stellt den umfangreichen (politisch-historischen) Hauptteil des Buches dar, das Fakten und Zusammenhänge unter Inanspruchnahme von Zeitzeugen und Archiven ausführlich und auf interessante Weise behandelt. So wird der Leser vertraut gemacht mit der Entstehungsgeschichte der Solidaritätsbewegung im Osten Deutschlands mit den gesellschaftlichen Organisationen und verschiedenen Institutionen (von den Gewerkschaften und den politischen Parteien bis zur Kirche, von der NVA bis zur sorbischen Domowina) als Basis der Spendenwerbung, die diese entweder für eigene solidarische Maßnahmen in der Dritten Welt verwandten oder aber dem 1973 entstandenen Solidaritätskomitee der DDR zur Verfügung stellten.  Letzteres war aus dem Komitee der DDR für Solidarität mit den Völkern Afrikas (gegr. 1960) bzw. dem Afro-Asiatischen Solidaritätskomitee (gegr. 1963) als Vorläufern hervorgegangen. Ihnen waren spezifische Komitees für Solidarität mit Korea, Vietnam, Algerien, Ägypten, Kuba, Chile und verschiedenen afrikanischen Völkern sowie ein Antirassismus-Komitee vorausgegangen. Das SK wurde ausgebaut zu einer Organisation, die außerhalb der staatlichen Organe und bei ihrer Tätigkeit in Afrika, Asien und Lateinamerika selbständig und eigenständig unter Nutzung der gegebenen Freiräume in Identifizierung mit der die Solidarität einschließenden Staatspolitik wirkte. Vertraut gemacht wird der Leser mit der Palette der Träger und Partner, den vielfältigen Quellen der Spenden, dem Spektrum der materiellen und ideellen (einschließlich Ausbildungs-)Hilfe, den regionalen Schwerpunkten des Wirkens im Ausland und ungezählten Einzelprojekten.


Die anderen Kapitel beschäftigen sich mit dem Abwehrkampf der Mitarbeiter des SK und vieler Freunde und Unterstützer gegen Versuche der Liquidierung der Institution und der  Enteignung ihrer finanziellen Mittel, die 1990 noch etwa 100 Millionen Mark (der DDR) umfassten, die noch nicht in Projekte geflossen waren bzw. aus weiterhin von DDR-Bürgern oder Einrichtungen eingehenden Spenden stammten. Der Autor vermittelt dem Leser zu dieser Periode konkrete, zumeist wenig bekannte Fakten und Tatsachen mit der Beweiskraft des Zeitzeugen, der die Verteidigung maßgeblich initiiert, organisiert und lange Zeit geleitet hat. Dabei geht es um zahlreiche Medien- und andere Verleumdungskampagnen sowohl gegen das SK als auch gegen SODI, ein wohlorganisiertes Kesseltreiben und - neben den Auswirkungen der völlig veränderten inneren Bedingungen in Ostdeutschland und besonders auch der Währungsreform - existenzbedrohende  Maßnahmen, vor allem der „Unabhängigen Kommission“ und der „Treuhandgesellschaft“, die ein Aufgeben erzwingen sollten, letztendlich jedoch ihr eigentliches Ziel verfehlten.


Resultate der mehrjährigen politischen und juristischen erbitterten Auseinandersetzungen waren schließlich der gerichtliche Vergleich vom Februar 1992, die Rettung von rund 50 Mill. D-Mark (12,6 für SODI, 1,3 für ostdeutsche NRO, 5,0 für gemeinnützige Zweck in den neuen Bundesländern, 30,0 + 3,0 Zinsen für die Stiftung NSBr), die Wiederaufnahme der Solidaritätsarbeit durch SODI und nach leidigen Querelen die Gründung der Stiftung Nord-Süd-Brücken im März 1994, die finanzielle Unterstützung für ostdeutsche und ostberliner entwicklungspolitische NRO leistet.


Der Rezensent kann aus eigener jahrzehntelanger und aus heutiger Erfahrung die Thesen des Autors bestätigen, dass die damalige DDR und ihre Solidaritätsbewegung bei Tausenden von Menschen aus afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Staaten ein überaus hohes Ansehen genoß und genießt, das vielfach auch auf den „konkreten“ Bürger des seinerzeitigen Staates DDR übertragen wird. Sicher hängt dies nicht zuletzt mit der Einzigartigkeit auch im Vergleich zu den anderen sogenannten sozialistischen Staaten zusammen, nicht was den politischen Grundkurs betrifft, sondern die ganz spezifische praktische Arbeit, besonders die Werbung der Spenden und deren Verwendung, die bis auf den letzten Pfennig gegenüber den Kontrolleuren der Treuhand und deren Juristen nachgewiesen werden konnte, oder die gesellschaftliche Rolle der Solidaritätsarbeit und ihre Basiertheit. Besonders wichtig erscheint uns der geführte Nachweis, dass keine diesbezüglichen Gelder missbraucht wurden, etwa für die ab 1990 behauptete Finanzierung der Stasi , von Terroristen und „5. Kolonnen“ sowie für Waffenkäufe für die Dritte Welt. Die Frage, wie weit Instrumentalisierung und politische Gängelung des Solidaritätskomitees im Zusammenhang mit der „führenden Rolle der Partei“ reichten, wird weiter diskutiert werden müssen. Ansichten, das SK sei uneingeschränkt unabhängig vom Apparat der Partei gewesen, lassen sich nicht aufrechterhalten und werden vom Autor im einzelnen selbst relativiert. Auf einige „bestimmte Kritiken, die auch gegenüber der Solidaritätsarbeit anzubringen sind“ (S.20), geht Reichardt ein und verurteilt solche Erscheinungen, die sich aus dem gesellschaftlichen Gesamtsystem der DDR und dem „Axiom“ der führenden Rolle der SED sowie entsprechenden politischen Praktiken  ergaben, im Ergebnis der Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen, oftmals gedrängt von Teilen der heutigen entwicklungspolitischen Szene. Nach der Wende vorgebrachte diesbezügliche Kritiken waren entwicklungspolitischen Insidern im Osten nicht neu und wurden vielfach auch bereits durch sie in der praktischen Arbeit geäußert. Reichardt und seine Mitarbeiter waren - trotzdem - darum bemüht, das Beste daraus zu machen, und sie konnten dabei beachtenswerte Erfolge vorweisen. Daß beispielsweise der Verzicht auf die Einbeziehung einzelner (im Gegensatz zu Organisationen) oder auf die Bildung fachlich-spezifischer sowie länderbezogener Arbeitsgremien eine heute schwer zu verstehende Schwächung der Arbeit bedeuteten, hebt der Autor mehrfach hervor. Obwohl Reichardts Anliegen klar und die Absicht verständlich ist, erscheint uns der direkte, uneingeschränkte Vergleich des SK mit Nichtregierungsorganisationen in Westdeutschland oder heute auch bei uns - also unter völlig anderen gesellschaftlich-politischen Bedingungen – nur sehr begrenzt möglich.