Prof. Dr. Walter Hundt, Fichtenwalde


Erschienen in: E + Z (Entwicklung und Zusammenarbeit), H. 3/2006, S. 126

                          

Hans-Georg Schleicher: Südafrikas neue Elite. Die Prägung der ANC-Führung durch das Exil. Hamburg, Institut für Afrika-Kunde 2004, 368 Seiten


Good Governance: Exilerfahrung prägt Regierungspolitik


Der Autor ist als ausgezeichneter Kenner der Materie und durch sein persönliches Verhältnis zu vielen südafrikanischen Akteuren für die Behandlung des Themas geradezu prädestiniert. Schleicher erwarb sich als Historiker und DDR-Botschafter in Simbabwe und Namibia die Basis für die vorliegende Studie. Zurückgreifen konnte er für das Buch zudem auf Kenntnisse, die er nach der Wende als wissenschaftlicher Mitarbeiter an universitären Einrichtungen in Hannover, Berlin und Hamburg sowie in der Projektarbeit in Afrika sammelte.


An seinem Buch wird künftig kaum jemand vorbeikommen, der die Entwicklung Südafrikas verstehen und bewerten will. Schleicher hat die wissenschaftliche Literatur, Memoiren, Quellensammlungen und Archive (besonders in Südafrika und Großbritannien) ausgewertet. Die wichtigsten Informationen verdankt er aber den Interviews, die er mit 19 südafrikanischen Zeitzeugen gemacht hat. Tabellen, Schaubilder, ein Verzeichnis südafrikanischer Persönlichkeiten des Befreiungskampfes und eine Auswahlbibliographie runden die Studie ab.


Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen die nach der Flucht im Exil unternommenen Schritte zur Vorbereitung einer späteren Machtübernahme. Schleicher arbeitet heraus, wie sich aus dem African National Congress (ANC) und seinen Mitgliedern (Robben Islanders, internals, exilists) der dominierende Teil der heutigen politischen Elite entwickelte. Er analysiert die Folgen des Exils und der dort gemachten Erfahrungen für die gesellschaftliche Entwicklung nach dem Ende der Apartheid und ihren Einfluß auf Politik und Strategie, auf das Verhältnis des ANC zu den Kommunisten (SACP) und zum Gewerkschaftsverband COSATU, aber auch für die persönliche Entwicklung. Dabei bleibt das Thema stets in den Ost-West-Konflikt eingebunden.


Schleicher schildert die politischen Zentren im Exil in Großbritannien, Tansania und Ghana, später in den Frontstaaten rund um Südafrika. Die sich in dieser Zeit herausbildenden Strukturen (Hauptquartier, Auslandsbüros, Komitees, Unterkomitees und Kommissionen, Politisch-Militärischer Rat, Nationales Exekutivkomitee, Regionale Politische Komitees, zivile Bildungs- und Ausbildungsstätten, Kommandostrukturen und Ausbildungscamps des militärischen Flügels Umkhonto we Sizwe, Diplomatenausbildung in der DDR) hätten den ANC im Laufe der Jahre zu einem „Staat im embryonalen Zustand“, zum „Staat im Exil“, zu einer „Regierung im Wartestand“ gemacht.


Für den Autor ist die Auseinandersetzung um das Apartheid-System einer der bedeutenden Konflikte des 20. Jahrhunderts. Der Westen habe ihn lange Zeit ideologisch verortet und falsch bewertet. Schleicher behandelt die Entwicklung der ältesten politischen Bewegung Afrikas (1912 gegründet), das erzwungene Exil ihrer Führungspersönlichkeiten in den 60er bis 90er Jahren mit seinen verschiedenen Etappen als wesentlichen Bestandteil der jüngsten afrikanischen Geschichte. In dieser Zeit sei die Identität der südafrikanischen Eliten weitgehend geprägt worden, wenngleich unter den heutigen weltpolitischen Rahmenbedingungen und bei Wirken der Globalisierung nicht mehr das früher bemühte Schema rechts – links, reaktionär – progressiv, proimperialistisch – nichtkapitalistisch wirkt, was diese Prägung maßgeblich beeinflußt. Einstige programmatische Träume von der „schnellen Errichtung einer sozial gerechten Ordnung im neuen Südafrika“ sind in den Führungskreisen zerstoben, und auch die Vorzüge der westlichen Gesellschaft in Gestalt von Demokratie und einer freien Marktwirtschaft – in verschiedenen Exil-Staaten seinerzeit angetroffen – werden vielfach längst überwuchert von gesellschaftsfeindlichen Grundübeln der „modernen“ Gesellschaft wie Massenkorruption und Nepotismus. Diese Entwicklung hat auch die gesellschaftlich-politische Grundposition mancher führenden Politiker mehr oder weniger verrückt. Griffige Konzeptionen, dem gegenzusteuern – wie sie vor allem von der ANC-Basis und der mittleren Ebene eingefordert werden – harren gegenwärtig noch ihrer Diskussion und Ausarbeitung, wobei die Exilerfahrung nur begrenzt behilflich sein kann. Die Kompliziertheit dieser Situation erschwert jede politische Schlußfolgerung und theoretische Verallgemeinerung des Autors, dessen Darlegungen erkennen lassen, daß er sich dieser Sachlage voll bewußt ist.


Dem Rezensenten  (er war selbst an der Ausbildung von ANC-Funktionären beteiligt) erscheint es dringend wünschenswert, die Studie zu ergänzen bzw. zu erweitern durch eine analysierende Würdigung des nicht-britischen europäischen Exils (besonders Skandinavien, Sowjetunion, osteuropäische Staaten und DDR), Chinas, Vietnams und Kubas sowie der afrikanischen „Nicht-Frontstaaten“.