Prof. Dr. Walter Hundt, Fichtenwalde


Erschienen in: WeltTrends H. 14, S. 175-178  


Reinold E. Thiel (Hrsg.), Entwicklungspolitiken - 33 Geberprofile, Schriften des Deutschen Übersee-Instituts Hamburg Nr. 36, Hamburg 1996, 340 S., 11 Tabellen und 6 Grafiken, ISBN 3-926953-35-7


Lesern der von der Deutschen Stiftung für internationale Entwicklung in mehreren Sprachen herausgegebenen Zeitschrift „E + Z / Entwicklung und Zusammenarbeit“ (Frankfurt/Main) sind sowohl der Herausgeber als deren Chefredakteur und brillanter Leitartikler als auch die seit vier Jahren bis vor kurzem erschienene Artikelserie über die Entwicklungszusammenarbeit

der einzelnen „Geberstaaten“ recht gut bekannt. Schon die seinerzeitige Veröffentlichung der Artikelserie war sowohl dem Spezialisten, den in der Öffentlichkeitsarbeit tätigen Lehrern, Referenten und Studenten, aber auch dem interessierten Laien ausgesprochen hilfreich.

Sie liegt uns nunmehr aktualisiert auf dem Stand 1995/96 und erweitert in Buchform vor. Das Buch bietet eine der wenigen Möglichkeiten für den allseits interessierenden Vergleich der Entwicklungszusammenarbeit zahlreicher Länder nach Volumen, Form, Vorgehensweise sowie deren Schwerpunkte und motivierende Interessenlagen. 30 deutsche und ausländische Autoren - Wissenschaftler, Praktiker, Entwicklungspolitiker und Diplomaten (außer H.-G. Schleicher sämtlich aus den alten Bundes-ländern bzw. westlichen Staaten) - analysieren die „Geberprofile“ von 33 westlichen Industriestaaten, sämtlich Mitglieder des

Entwicklungshilfeausschusses der OECD, ehemaligen „Ostblock-Staaten“ und selbst Entwicklungshilfe gebenden Entwick-lungsländern 1. Als Materialbasis für die Zahlenangaben


1 In einem Grundsatzartikel über die Neuorientierung der Entwicklungspolitik in den neunziger Jahren beschreibt R. E. Thiel mit großer Sachkenntnis und hohem Informationsgehalt die internationale und die globalpolitische sowie entwicklungs-politische Kulisse für Haltungen und Aktivitäten der Einzelstaaten. In den mit „Das Ende einer Ära“ überschriebenen

Ausführungen geht der Autor von der bekannten Feststellung des Premierministers von Mauritius aus, daß mit dem Ende des Kalten Krieges der „geopolitische Schleier“ über der Entwicklungszusammenarbeit weggefallen sei und für die künftige

Zusammenarbeit nicht mehr politisches Wohlverhalten, sondern ausschließlich wirtschaftliche Effizienz maßgeblich sei.

Im Kapitel über den Umfang der Entwicklungshilfe und deren Kürzungen in letzter Zeit verweist der Autor noch einmal auf die Unverzichtbarkeit des Begriffs „Entwicklungsländer“ als übergreifende Kategorie, der aber für analytische Zwecke ohne Differenzierung nicht mehr ausreichend ist (S. 16). Er geht von derzeit jährlich ca. 60 Mrd. $ (1994) als ODA (offizielle - staatliche - Entwicklungshilfe) aus. Dabei ist ein Rückgang um real 20 % durch Inflation in den letzten zehn Jahren zu berücksichtigen. 95 % der ODA entfallen auf Mitglieder des DAC der OECD, davon wiederum etwa die Hälfte auf EUStaaten.

Legt man die Relationen zwischen ODA und dem Bruttosozialprodukt zugrunde, dann ist festzustellen, daß wir es seit geraumer Zeit nicht mit einem Anstieg, sondern mit einem jährlichen Abfall auf derzeit etwa 0,30 % des BSP zu tun haben (1961 0,61 %; UNO-Ziel nach wie vor 0,70 %). Die Ursachen dafür sieht Thiel in der allgemeinen Strukturkrise und nicht zuletzt im Osttransfer zu Lasten des Südens. Weit übertroffen wird die ODA von steigenden privaten Zahlungen in Entwick-lungsländer (einschließlich der Nichtregierungsorganisationen).

Zu beachten ist dabei allerdings die gefährliche Rückflußproblematik - soweit es sich nicht um Direktinvestitionen handelt - und die Tatsache, daß vor allem „entwickelte Entwicklungsländer“, also „Schwellenländer“, bevorzugte Zielgruppe sind,


dienen vorrangig Dokumente der OECD, besonders die Jahresreports des DAC (Entwicklungshilfeausschuß der OECD).


Auf Nicht-OECD-Länder, die Mitte der siebziger Jahre noch mehr als ein Drittel der ODA erbracht hatten, entfielen 1994 lediglich 2,3 %. Besonders herausragend hierbei Kuweit, Saudi-Arabien, Südkorea und Taiwan, im turksprachigen Raum zeitweilig die Türkei. Über gewisse Perioden wurden die westlichen Industriestaaten durch die arabischen Ölländer weit übertroffen (Saudi-Arabien 14,8 %, VAE 12,9 %, Katar 14,6 % des BSP), wobei allerdings Ölpreisverfall und Golfkriege negative Auswirkungen hatten. Die ehemaligen RGW-Länder, unter denen früher vor allem die UdSSR, die DDR und die CSSR vorn gelegen hatten,

sind heute statistisch wegen ihrer Geringfügigkeit nicht mehr erfaßbar.

Im folgenden spricht Thiel vom Scheitern der bisherigen Strategien. Die deutlich weniger werdenden Mittel und ein verändertes Umfeld erfordern seiner Auffassung nach neue Strategien. Überhaupt müsse die Rolle der Entwicklungspolitik neu bestimmt werden. Dabei unterstreicht er das geringe weltpolitische und weltwirtschaftliche Gewicht des Politikfeldes Entwicklungspolitik, das kaum meßbare Auswirkungen auf internationale Prozesse habe. Er verweist darauf, daß die sogenannte Entwicklungshilfe heute lediglich ein Zehntel der Höhe der Militärausgaben ausmacht. „Entwicklung“ habe in den Entwicklungsländern zumeist nicht stattgefunden. In Afrika sei sogar ein Abfall des Bruttosozialprodukts zwischen 1970 und 1990 um zehn Prozent zu verzeichnen. Korrelationen zwischen der Höhe von Entwicklungshilfeleistungen und „Entwicklung“ seien in keinem Falle feststellbar (S. 21).

Ausführlich wird auf das ostasiatische Modell einer „gelenkten Marktwirtschaft“ als Alternative eingegangen. Thiel verweist auf den rasanten wirtschaftlichen Aufschwung und die Zunahme des Bruttosozialprodukts in den Ländern der ersten und zweiten Generation der „Tigerökonomien“. China und Vietnam mit hohen Wachstumsraten, aber einem noch sehr niedrigen Pro-Kopf-Einkommen könnten leicht zur dritten Generation werden. Thiel verweist zu Recht darauf, daß die Faktoren Welthandels-beziehungen, Exportorientiertheit und Freihandel in ihrer Auswirkung auf wirtschaftliche Erfolge umstritten sind (S. 22).

Der Kern der neuen Strategien des Westens besteht nach Auffassung des Autors in einer auf die Reform der internen Rahmen-bedingungen gerichteten Politik. Nach Thiels Meinung haben die westlichen Geberländer nahezu nichts aus den ostasiatischen Modell-Erfahrungen gelernt und betrachten statt dessen den Staat als Hindernis für wirtschaftliche Entwicklung, das durch Deregulierungen abzubauen ist (S. 23 f.). Dieser Kurs bestimmt auch das zu Beginn der neunziger Jahr sich herausbildende neue Entwicklungsparadigma, das von neoliberalen Volkswirtschaftsverfechtern geprägt ist. Ganz offensichtlich wurden die externen Rahmenbedingungen in den achtziger Jahren in ihrem Einfluß auf die Entwicklung der Dritten Welt überschätzt, was auch für die Tigerländer zutrifft. Daraus ergibt sich logischerweise, daß die internen Rahmenbedingungen eine wichtigere Rolle hinsichtlich ihres Wirkens als entwicklungsfördernder bzw. entwicklungshemmender Faktor spielen, als dies bisher

angenommen wurde. Ganz offensichtlich ist heute, daß die westlichen Staaten in der Zeit des Kalten Krieges bewußt



Interessant die Darlegungen über die Leistungen einzelner Staaten. So sind besonders die hohen nominellen Steigerungs-raten Japans augenfällig, das seine internationale Rolle weiter ausbaut. Bei den USA zeichnet sich ein tendenziell isolationistisch motivierter Rückgang ab. Frankreich, das schon immer eine hohe BSP-Rate hatte, nimmt unter den

großen Geberländern den dritten Platz ein. Für die BRD, derzeit auf dem vierten Platz, ist ein allgemeiner Ratenabfall festzustellen. Das höchste Niveau hatten 1994 Norwegen (1,05 %), Dänemark (1,03 %) und Schweden (0,96 %).


Tendenzen „übersehen“ haben wie Überbürokratisierung, Korruption und Nepotismus, Überrüstung, fehlende Rechtssicherheit, Unterdrückung der Menschenrechte und der Privatinitiative.

Dem Autor ist zuzustimmen, wenn er davon spricht, daß die sogenannten Strukturanpassungsprogramme der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds sich als ein generell untaugliches Instrument erwiesen haben. Sie führten lediglich zu Teilergeb-nissen, andererseits aber auch zu neuen großen sozialen Problemen, da sie zu sehr auf Budgetfragen konzentriert waren, nur an Symptomen kuriert hatten und damit zu kurzfristig wirksam waren.

Ausdruck des Bemühens um eine neue Strategie sind für Thiel



Damit besteht seit Anfang der neunziger Jahre sowohl bei internationalen Organisationen als auch bei den einzelnen Staaten ein relativ breiter internationaler Konsens über die Prinzipien künftiger Entwicklungspolitik, der sich in zahlreichen internationalen Dokumenten niedergeschlagen hat.

Bei der Behandlung der „neuen Kriterien“ der deutschen Entwicklungszusammenarbeit verweist der Autor auf zwei interessante Tendenzen. Gemeint ist die außerordentliche Zurückhaltung gegenüber dem anfangs euphorisch betonten Problem der zu hohen Militär- und Rüstungsausgaben - zweifelsohne Ausdruck der Exportinteressen der eigenen Rüstungswirtschaft und Folge der Einmischungsanschuldigungen vieler Entwicklungsländer. Auch die vehementen Forderungen nach „Demokratisierung“ (Durchführung von Wahlen, Einführung von Mehrparteiensystemen etc.) sind deutlich in den Hintergrund getreten. Thiel verweist in aller Deutlichkeit auf die Widersprüchlichkeit des Verhältnisses zwischen „Konditionalität“ (bis zum Ausschluß bestimmter Länder von der Entwicklungszusammenarbeit) und sogenannten „Positivmaßnahmen“ (Fördermaßnahmen, die dem betreffenden Entwicklungsland helfen sollen, den geforderten Zustand zu erreichen). Im folgenden behandelt der Autor weitere wichtige Problemkomplexe, die in der Diskussion sind, wie Planung und Evaluierung sowie Effizienz von Projekten; multilaterale Kooperation in den jeweiligen Entwicklungsländern mit gemeinsamer Strategie (Sektorprogramme); die Rolle von Nichtregie-rungsorganisationen in den Ländern des Nordens und in den Ländern des Südens; die Unumgänglichkeit von Partizipation bzw. partizipativen Ansätzen.

Die Frage „Wie geht es weiter?“ beantwortet der Autor ausgehend von der These, daß die neue Strategie der strukturellen Reformen in jeder Hinsicht schwieriger als die alte Strategie der Projekte sein dürfte. Er verweist darauf, daß Voraussetzungen für ein Umdenken in den Nehmerländern vielfach fehlen. Den Einsatz qualifizierter Eliten setzt er bewußt gegen die Tendenzen des Nepotismus. Er unterstreicht aber besonders auch die Notwendigkeit des Umdenkens bei den Gebern, die sich weg von jeglicher Rivalität hin zur effektiven Koordinierung bewegen müssen. Daraus ergibt sich auch eine neue qualitative Anforderung an die Durchführungsorganisationen und deren Personal, das künftig mehr mit sozialen Prozessen und institutionellen Reformen konfrontiert sein wird. Angesichts der bekannten Diskrepanzen und der überdeutlichen Defizite in den Ländern des Nordens unterstreicht Thiel das Erfordernis der Nachhaltigkeit aller entwicklungspolitischen Schritte.

Nicht ohne Grund verweist er am Ende seines Artikels erneut auf die Gefahren der globalen Marktöffnung und auf die Notwendig-keit der Liberalisierung der Finanzmärkte. Nach Thiels Ansicht besteht der einzige Ausweg in einer unumgänglichen „geistig-moralischen Wende“, die er allerdings als unwahrscheinlich ansieht - man muß ihm sicher zustimmen.