Prof. Dr. habil. Walter Hundt


Veröffentlicht als Broschüre des Bremer Senats                                                                   


Entwicklungszusammenarbeit Ost – (k)ein neues Thema?


(Ansprache auf dem festlichen Symposium anlässlich der Verabschiedung von Senatsrat Gunther Hilliges

durch den Senat der Freien Hansestadt Bremen am 23.Mai 2005)



Thesenhaft möchte ich einige wenige Gedanken zu dem mir vorgegebenen recht umfassenden Thema äußern, die meiner Auffassung nach erinnerungswürdig sind, zumal sie vielfach etwas mit dem Anlaß des heutigen Tages zu tun haben. Ich stütze mich dabei auf Analysen aus verschiedenen Etappen der Zeit ab 1990, wobei das Land Brandenburg vielfach einen Schwerpunkt bildet, der aber die Möglichkeit der Verallgemeinerung für alle neuen Bundesländer erlaubt.


1. Dritte-Welt-Arbeit der DDR – einige Gedanken zur Wertung und Nutzung


Resumé und Bilanz sowie Wertung scheinen quasi ein historische Thema zu sein, das aber über die Nutzung und Verwertung bis heute in unsere entwicklungspolitische Arbeit, erst recht in die wissenschaftliche Arbeit hineinwirkt. Wer sich dazu äußert - vielleicht gar noch tendenziell und partiell positiv – wird heute nicht mehr unbedingt verdächtigt, wie das anfangs fast obligatorisch zu sein schien.


Von Anfang an stand für mich und für uns fest, dass nichts so weiter gehen konnte wie vorher. Eine Neuorientierung war unumgänglich, bei der aber - wie ich meinte -  eine Bestandsaufnahme der Vergangenheit ausgesprochen nützlich seien konnte. Zu diesem Zeitpunkt lagen weit über 30 Jahre der Beschäftigung mit der Dritten Welt hinter mir, anfangs im Bildungswesen, später professionell an entwicklungspolitischen Hochschuleinrichtungen. Ich wußte also politisch-inhaltlich, wovon ich sprach, aber  das politische (und wissenschaftliche) in der Bundesrepublik gewachsene Umfeld ahnte ich nur, und dennoch war es dann zum Teil ganz anders. Lange Zeit war mein Leben geprägt vom echten Glauben an eine sozialistische Gesellschaft mit sozialer Gerechtigkeit, die entwicklungspolitische Überlegungen umfassend einschloß. Daraus hatten  Engagement und Einsatz-bereitschaft resultiert. So bedeutete also die Abwicklung auch keinen grundsätzlichen Bruch mit den entwicklungspolitischen Grundüberzeugungen. Parallel zu dem gedanklichen Prozeß des Überprüfens und der Einstellung auf neue Erfordernisse hatte vor allem die Bekanntschaft mit „neuen Menschen“, denen ich unmittelbar während und nach der Wende begegnete, hohe subjektive Bedeutung. Immer stand im Mittelpunkt meiner Überlegungen in jener Zeit die Frage: lohnt es sich noch einmal? Mir war klar, dass ein entwicklungspolitischer Neuanfang bei vielen zwar auf Sympathie stoßen würde, bei ebenso vielen aber sofort als ausgesprochene Exotenposition abgetan werden würde, vielleicht sogar von vielen belächelt.


Der Prozeß der persönlichen Bestandsaufnahme und des kritischen Durchleuchtens unserer damals noch nicht so genannten Entwicklungspolitik hatte schon lange vor Beginn des Projekts „Brandenburg in der Dritten Welt“ begonnen und hielt natürlich in dieser Zeit weiter an. Längst war klar, dass wir in der DDR Illusionen bei uns genährt hatten und Illusionen in den Entwicklungsländern bezüglich unserer Möglichkeiten der Unterstützung und Kooperation geweckt hatten. Gewisse (zum Teil weitgehende) Konzeptlosigkeit in gewissen Zeiten und im Zusammenhang mit bestimmten entwicklungspolitischen Fragen war uns natürlich nicht verborgen geblieben. Als Insider kannte jeder von uns die Leiden des „Mittagismus“ der allgewaltigen Entwicklungsländer-Kommission,  die über Jahre Entwicklungspolitik zum Gegenstand willkürlicher, öffentlich nicht nachvollziehbarer Entscheidungen machte. Nicht selten wurden einsame Entschlüsse „großer Männer“  zum Leitfaden für unsere Arbeit, z.B. bei der Deklaration von Prestigeprojekten, der Festlegung von „Schwerpunktländern“ entsprechend dem Reiseplan Erich Honeckers u.a.m. Jeder von uns hatte besonders in der letzten Zeit das Gefühl, dass die Vermischung von staatlicher Außenpolitik und Solidaritätsbewegung auf Dauer nicht aufgehen konnte. Das alte DDR-Prinzip „Nur ja keinem in der Dritten Welt wehtun“ mit Konsequenzen für die praktische Außenpolitik und die außenpolitisch-entwicklungspolitische Wissenschaft hatte zum Teil unerträgliche Folgen. Jeder, der in dieser Zeit publizieren wollte und publizieren musste, hat da massenhaft eigene Erfahrungen! Einer gewollten Enge auf entwicklungspolitischem Gebiet standen dennoch auch Ungezählte mit persönlichem großen Engagement gegenüber, die sich auch durch von Subjektivismus geprägten Prioritäten und Fehlprognosen nicht abschrecken ließen. Usus geworden war von einem bestimmten Zeitpunkt an eine Klientelpolitik gegenüber Entwicklungsländern mit zum Teil hohen Kosten und hohem politischen Gefährlichkeitsgrad. Antiamerikanische Losungen genügten oft für die Einstufung als unterstützungswürdiges Land unter völliger Außerachtlassung innenpolitischer Realitäten. Dabei war nur ein schlechter Trost, dass offenbar die westlichen Staaten den gleichen Fehler begingen. Mit Enge, Gängelei und Dirigismus sowie Behinderung besonders in wissenschaftlicher Hinsicht sollte nunmehr Schluß sein.


Aber da waren auf der anderen Seite viele Positiva, die ungeachtet der kritischen Bilanz der DDR-Entwicklungspolitik auch nicht vom Tisch zu wischen waren. Ich denke an die Aufgeschlossenheit und ein reales breites Interesse an der Dritten Welt, die ein bestimmtes von echter Solidarität geprägtes Verhalten bei unseren Menschen erzeugten. Unsinn die These, das sei alles befohlen und kommandiert worden. Hervorragende Politiker aus Entwicklungsländern wie Mandela oder Nyerere haben eine sehr klare Wertschätzung dieser Seite der Erziehung in der DDR vorgenommen, die, wenn man so will, bereits im Kindergarten begann und in die großen Komplexe Solidarität und Internationalismus eingebettet waren. Entwicklungspolitische Bildungsarbeit war in der DDR natürlich im wesentlichen Bildungsarbeit über die Dritte Welt, ein Mangel, den wir im übrigen auch heute noch nicht losgeworden sind. Andererseits ist festzustellen, dass ein solches positives Verhalten natürlich nicht „Herzenssache des ganzen Volkes“ war, wie das in den Parteidokumenten oft formuliert wurde. Eine ausgewogene Bilanz durfte allerdings auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Entwicklungszusammenarbeit der DDR durchaus „vorzeigewürdige Leistungen“ hervorgebracht hatte, wie dies der Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit der demokratisch gewählten letzten DDR-Regierung, Hans-Wilhelm Ebeling, im Juli 1990 gewürdigt hatte.


Bei der persönlichen Bestandsaufnahme spielte – das muß ich ehrlich eingestehen – in ganz entscheidendem Maße das Gefühl eine große Rolle, auch vor der Wende eine gute und nutzbringende Tätigkeit verrichtet zu haben, eine Auffassung, die mir kurz danach erstaunlicherweise völlig unaufgefordert zwei sehr unterschiedliche Vertreter des neuen gesell- schaftlichen Lebens im Land Brandenburg bestätigten: nämlich Universitätsrektor Prof. Dr. Mitzner und der Vorsitzende des SPD-Landesverbandes Minister Steffen Reiche. Ich will nicht verhehlen, dass solche Einschätzungen einem in dieser komplizierten Situation einen gewissen Auftrieb verliehen. So gehörte ich weder zu den euphorischen Nostalgikern, für die selbstkritische Betrachtung – selbst in Grenzen – ein Fremdwort war, noch zu jenen, für die offenbar eine „Pflicht“ zur allumfassenden Kritik um jeden Preis und in jeder Hinsicht bestand. Für mich stand fest, dass eine  künftige Tätigkeit, sollte sie sich realisieren lassen, sich in vieler Hinsicht mehr oder weniger unter Berücksichtigung des gesamtgesellschaft- lichen Rahmenumbruchs direkt an frühere Intensionen der langjährigen Beschäftigung mit Fragen der Dritten Welt und der nationalen Befreiungsbewegung der Völker Afrikas, Asiens und Lateinamerikas anschließen würde. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits mehr als 30 Jahre mit diesen Fragen intensiv befaßt. Die Entwicklungsländer, ein Begriff der für uns erst „freigegeben“ wurde, nachdem Breshnew  ihn zum erstenmal auf dem XXIV. Parteitag der KPdSU 1971 gebraucht hatte(!), waren „meine Welt“ geworden, darunter auch das, was wir heute Entwicklungszusammenarbeit nennen. Es galt also von vornherein, ein richtiges Verhältnis anzustreben zwischen der Würdigung von DDR-Leistungen und einer berechtigten und notwendigen Kritik an ostdeutscher Entwicklungspolitik, was nicht zu deren generellen Infragestellung führen durfte, wie das in vielen westdeutschen Publikationen zunächst geschah. Heute hat sich fast überall bei meinen politischen und wissenschaftlichen Freunden in ganz Deutschland die Auffassung von der Notwendigkeit einer relativierten objektiven Bewertung dieser Zeit durchgesetzt.


Zur Maxime all unserer künftigen Bemühungen mußte jener Wandtext werden, der in der Universität Khaipur noch heute zu lesen ist: „Coming together is a beginning. Keeping together is progress. Working together is success .” Ein Vorsatz, der leider heute noch immer bei einigen unserer brandenburgischen Politiker nicht realisiert ist, stand für uns damals fest: wir müssen weg von sogenannter Entwicklungshilfe hin zu echter gemeinsamer Entwicklungszusammenarbeit. Wir hatten die Hoffnung, dass der Dialog mit westdeutschen Freunden, die wir zu dieser Zeit noch nicht hatten, helfend beitragen könne, wenngleich wir der BRD-Entwicklungspolitik und ihrem Establishment  keineswegs unkritisch gegenüberstanden – eine Auffassung, die sich immer wieder bis auf den heutigen Tag als richtig erweisen sollte. Diese unsere Auffassung und die nahezu absolute Unkenntnis beim staatlichen Partner (Bundesinstanzen) über die Situation in Ostdeutschland, auch auf entwicklungspolitischem Gebiet, führte übrigens bei meinem ersten westdeutschen Auftritt in Bonn (eine Veranstaltung des Gustav-Stresemann-Instituts, zu der ich als einer der ostdeutschen Vertreter eingeladen worden war) zu einem heftigen, langandauernden und lautstarken Zusammenstoß zwischen dem BMZ-Staatssekretär Repnik und mir. Eine andere „Früherkenntnis“ meinerseits in Brandenburg bestand darin, dass zumindest auf unserem Gebiet Einsicht unbedingt die evidente Notwendigkeit und den nachhaltigen Druck als Bundesgenossen braucht. Daraus entstand für die praktische Arbeit die Frage, ob unser künftiges Gremium nicht eine pressure group im „neudeutschen“ Sinne sein müsse.


Worauf konnten wir in Brandenburg auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik / Entwicklungszusammenarbeit aufbauen? Da war das erwähnte entwicklungspolitische Potential an Menschen aus Produktion und Wissenschaft mit Wissen und Können sowie Projekterfahrung; die ehrliche Bereitschaft zur Mitarbeit, zum Teil auch unter Zugrundelegung negativer Erfahrungen; viel guter Wille und Engagementbereitschaft, Sachkenntnis und Kompetenz; viele international anerkannte Forschungsresultate und zum Teil auch gerügte Arbeitsergebnisse neben Darstellungen mit wissenschaftlicher Verzeichnung und Ideologiebedingtheit; nutzbare vorhandene bewußtseinsmäßige Elemente, die lediglich „positiv freigeschaufelt“ werden mußten. Für jeden von uns waren Erfolgsbilanz und Desillusionierung zusammengewachsen, und die entwicklungspolitischen Anstrengungen waren – wie die Entwicklung des gesamten politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebens – eingebettet in den „Aufschwung Ost“ der, ehe er so richtig begonnen hatte, bereits wieder zu Ende zu gehen drohte oder an vielen Stellen sogar ausgeblieben war. Die wirtschaftlich-sozialen Sorgen unserer Menschen schienen sich auch auf unserem Gebiet zu Haupthemmnissen des Aktivwerdens zu entwickeln.


Die Tätigkeit des Entwicklungspolitischen Runden Tisches war bei der Neuorientierung eine wertvolle Hilfe, jener Versuch gutgewillter „Ossis“, in den zunehmend auch west- deutsche Freunde einbezogen wurden, mit einer eindeutigen Zielstellung: eine kritische Bilanz der DDR-Zeit auf entwicklungspolitischem Gebiet vorzunehmen, neue unumgängliche Erfordernisse durchzusetzen, bestimmte Bastionen der Vergangenheit und die damit verbundenen Monopole zu brechen und die Formulierung eines neuen Ansatzes auf diesem Politikfeld zu versuchen. Das traf auch auf die „Leitsätze des Runden Tisches für Entwicklungspolitik“  zu, die leider in keiner Hinsicht in den Folgejahren eine Verwirklichung erfuhren.

 

Aus der Zeit meines ersten Indien-Aufenthalts fiel mir damals immer wieder Nehru ein, der einmal formulierte: „Der Mensch hätte bestimmt seine Augen im Hinterkopf, wenn er dazu bestimmt wäre, ständig rückwärts zu blicken oder zu gehen.“ Unumstößlich stand für mich fest, dass es kein Beginn bei „Stunde Null“ sein mußte. Grundprinzip unserer künftigen Arbeit sollte eine breite Einbeziehung möglichst vieler, wenn nicht aller werden – damals wie heute eine Illusion! Ein Vorsatz, der transparente und begreifliche Schwerpunktbildung einschließen musste.


Die Prozesse der Bestandsaufnahme und Neuorientierung wurden wesentlich begünstigt und beschleunigt durch die Umsetzung meines festen Entschlusses, relativ schnell in den alten Bundesländern an Veranstaltungen teilzunehmen und wenn möglich dort mit Diskussionsbeiträgen oder Vorträgen aufzutreten. Nach einem Vortrag in der Berliner Stadtbibliothek im Januar/Februar 1990 in Anwesenheit zahlreicher DDR-Bürgerrechtler und westdeutscher sowie Westberliner Vertreter, wo ich zum Thema „DDR und ‚Dritte Welt’ heute“ sprach und eine interessante Diskussion auslösen konnte, war dies in erster Linie ein mehrstündiger Vortrag auf Einladung von Cultur Cooperation e.V. und Kulturbüro Dritte Welt im legendären Haus am Nernstweg 32-34 in Hamburg zum Thema „Zu einigen Aspekten der entwicklungspolitischen Arbeit und der Solidaritätsarbeit in der ehemaligen DDR – Gedanken zu gestern, heute und morgen“. Teilnehmer waren Politiker und Entwicklungspolitiker sowie vor allem Vertreter der entwicklungspolitischen westdeutschen Basis. Die Veranstaltung hatte ganz besonders mir im Zusammenhang mit der folgenden Diskussion, aber auch auf der Seite der Zuhörer offenbar eine Menge neuer Erkenntnisse vermittelt. Schnell konnte ich feststellen, dass unser relativ hohes Fachwissen nicht darüber hinweg täuschen durfte, dass man ein erhebliches Defizit an entwicklungspolitischem Wissen angesichts der neuen Erfordernisse, auch hinsichtlich unserer künftigen Aktivitäten, hatte. Wenn das, wie mir viele Freunde bestätigten, bei nahezu allen von uns als Spezialisten so war, so durften wir keineswegs darüber hinwegsehen, dass dieses Defizit beim sogenannten Durchschnittsbürger noch viel größer war. Nachdem ich für die ersten beiden Veranstaltungen noch eine gehörige Portion von Mut aufbringen mußte, wuchs sehr bald der Entschluß, so viel wie möglich in die alten Bundesländer zu Diskussionen zu fahren (soweit das die knappe Reisekostenregelung zuließ). Die Aufnahme war differenziert: Wertschätzung und kritische solidarische Sympathie einerseits, wenige Verächtlichmacher mit Delegitimierungsversuchen nach der Kinkel-Weisung andererseits; daneben große und weniger große Lücken über die DDR.


Gezehrt habe ich von der Tatsache, dass ich schon in meinem „vorigen Leben“  mich intensiv mit der Dritten Welt beschäftigt habe und beschäftigen konnte. Zum Zeitpunkt der Wende kannte ich aus eigener Anschauung ca. 30 Entwicklungsländer, hatte einige hundert Publikationen zur Thematik, die zum Teil noch bzw. aus aktuellem Anlaß wieder im Gespräch sind. Und „gezehrt“ habe ich natürlich auch aus der Kraft, die die Zeit nach 1990 freizusetzen ermöglichte (trotz Abwicklung).


2. Die Nach-Wende-Situation in den neuen Bundesländern und die Frage des Zusammenwachsens dessen, was     zusammengehört


Wie ging es in Brandenburg los, wo neu entstehende Gruppen neben „alten“ zu wirken begannen und entwicklungspolitische Aktivitäten sich weitestgehend auf entwicklungs- politische Bildung und Öffentlichkeitsarbeit erstreckten?

Im Land Brandenburg  – wie in allen neuen Bundesländern – standen wirtschaftliche und soziale Sorgen und Probleme bei Bevölkerung und Politikern  im Mittelpunkt politischen Nachdenkens und Handelns. Dennoch gab es unter diesen komplizierten Bedingungen – ungeachtet der kompletten „Abwicklung“ des in Potsdam vorhandenen wissenschaftlich-entwicklungspolitischen Potentials – einige „Dritte-Welt-Enthusiasten“, Leute, von denen es an der damaligen Brandenburgischen Landeshochschule hieß: „Wer sich in solchen Zeiten mit der  Dritten Welt beschäftigt, ist ein ausgesprochener Exot, den man sich finanziell gar nicht leisten kann, zumal er sicher bald anfangen wird, nach Hilfsgeldern für Menschen in den Entwicklungsländern zu fragen.“ Die erwähnten Leute waren jedoch der Meinung, dass es auch oder gerade unter den neuen Bedingungen nach der Wende ein gesellschaftliches Erfordernis war, sich mit der Dritten Welt zu beschäftigen, da dies notwendig und nützlich für den Süden, besonders aber für den Norden selber ist.


Es gab die Auffassung, dass trotz allem entwicklungspolitische Gedanken und Aktivitäten in Brandenburg unverzichtbar seien, zumal Brandenburg – wie Untersuchungen im wirtschaftlichen und kulturell-wissenschaftlichen Bereich zutage brachten – über eine ganze Reihe durchaus beachtenswerter Anknüpfungspunkte für Entwicklungspolitik / Entwicklungshilfe / Entwicklungs-zusammenarbeit aus vergangenen Jahrzehnten verfügte. Da gab es auf dem Territorium der früheren Bezirke Potsdam, Frankfurt (Oder) und Cottbus Menschen unterschiedlichen Alters in den verschiedensten Berufsgruppen, die über ihre Industrie-, Landwirtschafts-, Handwerks- oder Handelsbetriebe, ihre Schulen oder Wissenschaftseinrichtungen, über die Solidaritäts- und Freundschaftsarbeit, nicht zuletzt über Kirchen oder unter dem Dach der Kirche angesiedelte Gruppen Dritte-Welt-Kontakte in dieser oder jener Form, direkt oder indirekt gepflegt hatten. Es mußte also keineswegs bei Null angefangen werden. Es gab eine für Probleme des Südens in gewisser Hinsicht sensibilisierte Öffentlichkeit mit Interessen und einer – hier und da sicher zeitweilig zurückgedrängten – Bereitschaft zum Tätigwerden. Aktivisten wirkten in einzelnen Gruppen und am in der Wendezeit entstandenen Potsdamer „Offenen Tisch Entwicklungspolitik / Ausländerfragen“. Und da gab es, wie ich bald aus der Distanz feststellen konnte, einen für entwicklungspolitische Belange offenbar ausgesprochen aufgeschlossenen Mann an der Spitze der neuen Landesregierung, der bereits frühzeitig die Zustimmung seines Kabinetts zum Ministerpräsidentenbeschluß der westdeutschen Bundesländer von 1988 herbeiführen sollte und später denjenigen Mut machte, die an eine Institutionalisierung der Nord-Süd-Arbeit im quasi noch nicht vorhandenen universitären Bereich unter Nutzung von ABM-Mitteln dachten, Leuten, die ich in dieser Situation um mich zu scharen begann.


Sichtbar wurde schnell, dass eine Vielzahl neuer, bis dato in Brandenburg nicht bearbeiteter Fragen auftauchten. Teilaufgaben waren allerdings auch früher  an verschiedenen inzwischen abgewickelten Lehrstühlen und Wissenschaftsbereichen ausge-sprochen intensiv und mit zum Teil international beachteten und anerkannten Resultaten betrieben worden. Dabei hatte es auch auf diesem Gebiet sowohl ideologiebedingte Verzeichnungen und Fehlleistungen gegeben, aber eben auch realistisch-kritische, von der damaligen „Obrigkeit“ scharf gerügte Arbeitsergebnisse. Und dann hatte es auch im entwicklungspolitischen Bereich unter Brandenburger Wissenschaftlern am damaligen Institut für Internationale Beziehungen den Versuch eines kritisch-selbstkritischen inhaltlich-konzeptionellen, strukturellen und personellen Neuansatzes - von westdeutschen Kollegen, z.B. vom Otto-Suhr-Institut der Freien Universität in Westberlin, ausgesprochen positiv bewertet - gegeben, der allerdings ebenfalls in den Abwicklungswirren offenbar völlig unbesehen unterging.


Im Ergebnis einer Ausschreibung wurde mir im Mai 1990 die Leitung des neu konzipierten Lehrstuhls „Politische Strukturen in Entwicklungsländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas“ übertragen. Ein solcher Lehrstuhl warf unter den Westberliner Kollegen sofort die Frage auf, ob denn eine derartige Komplexität, die sich auf alle drei Kontinente erstreckte, wissenschaftlich überhaupt zu meistern sei. Als ausgebildetem Historiker fiel einem da sofort der Leitspruch François de La Rochefoucaulds, eines scharfen Kritikers der Verhältnisse am Hofe Ludwigs XIV., aus dem Jahre 1665 ein: „Wir haben mehr Kraft als Willensstärke; und nur um uns vor uns selbst zu entschuldigen, halten wir oft Dinge für unerreichbar.“ Und Mut war das, was einem in solchen Situationen am allerwenigsten fehlen durfte. Hier kam mir meine wissenschaftliche „Vergangenheit“  natürlich zugute (1965-70 stellvertretender Leiter eines Afrika-Lehrstuhls, 1971-74 Leiter eines Lateinamerika-Lehrstuhls und dann bis 1989 Leiter eines Lehrstuhls für asiatisch-pazifische Entwicklungsländer). Neue Studenten strömten ans Institut, und auf uns kam ein gewaltiges Pensum an Lehrverpflichtungen unter völlig neuen Bedingungen zu, obwohl die Zahl der Mitarbeiter bereits „gestrafft“, sprich reduziert wurde.


Ungeachtet dessen stand für mich fest, dass man das neue politische Umfeld für die Tätigkeit eines solchen Lehrstuhls schnellstens sondieren mußte. Deshalb bemühte ich mich relativ schnell bei zwei Ministern in spe, bei Dr. Herbert Knoblich, damals verantwortlich für den Schul- und Hochschulbereich der Bezirksverwaltungsbehörde, und bei Albrecht Braehmer, verantwortlich für Wirtschaft. Die gelockerten „Leitungsprinzipien“ und die betont hervorgehobene Eigenverantwortung der Lehrstuhlleiter ließen es mir durchaus als machbar erscheinen, solche Gespräche ohne Information der Institutsleitung zu führen. Die „Audienzen“ verliefen bei beiden Herren relativ konstruktiv. Dr. Knoblich unterstrich forsch die Notwendigkeit neuer Konzepte, wenn ein solches Unterfangen in der Zukunft von Erfolg gekrönt sein solle. Meine Argumentation nach der Abwicklung war:

1. jedes Bundesland braucht eine bzw. mehrere Universitäten – auch Brandenburg;

2. jede Universität braucht Politikwissenschaften;

3. jeder Fachbereich Politikwissenschaften braucht die Entwicklungsländer-Problematik (Komparatistik etc.).  

Herr Braehmer fragte mich zunächst verwundert, wieso ich als Entwicklungspolitiker gerade zu ihm komme, worauf ich ihm erwiderte, dass meine zwar noch bescheidenen Kenntnisse über die Struktur westdeutscher Landesregierungen dennoch beinhaltete, dass Entwicklungszusammenarbeit in der Regel bei den Wirtschaftsministern lag. Verwundert schob er einen Vorhang an der Wand beiseite, hinter dem ein großes Strukturschema seines Verantwortungsbereichs im Rahmen der Bezirksverwaltungsbehörde auftauchte. Und siehe da: er war für EZ in Brandenburg verantwortlich! Die zweite, für damalige Verhältnisse fast symbolische Frage an mich lautete: „Gibt es denn außer Brandenburg noch andere Entwicklungsländer auf der Welt?“ Auch im Ergebnis dieses Gesprächs wurde mir der Weg zu Mitarbeitern des Bereichs geöffnet. In dieser Situation bildete ich unsere Arbeitsgruppe „Brandenburg in der Dritten Welt“ an der Universität Potsdam. Sie entstand faktisch auf der Deponie der wissenschaftlichen Entsorgung der Entwicklungsländer-Tätigkeit in Ostdeutschland und war so ein echtes „Wendeprodukt“, übrigens das einzige seiner Art in den neuen Bundesländern. Die AGr war ein spezifisches Resultat des Umbruchs und der Abwicklung der DDR-Entwicklungsländer-Forschung. An der neugegründeten Universität Potsdam wurden wir von vielen als „Wildwuchs“ betrachtet, aus dem wir „Normalwuchs“ zu machen gedachten, auch wenn der Vorsitzende des Wissenschaftsausschusses des Landtags unseren Gegenstand als „brotlose Kunst“ und als „ausgesprochen Bonner Sache“ bezeichnete.


Als konzeptionelle Richtwerte sollten gelten:



Großen Wert legte ich von Anfang an darauf, dass die Arbeitsgruppe faktisch zwei Standbeine hatte: das praktisch-entwick-lungspolitische Feld und die wissenschaftliche Seite der Medaille. Diese Situation habe ich auch später in der BEPI-Periode immer versucht aufrecht zu erhalten, indem ich soweit wie möglich am wissenschaftlichen Leben teilnahm, Artikel publizierte und Vorlesungen und Vorträge hielt, auch wenn das Tagesgeschäft  dies manchmal außerordentlich erschwerte. Den Ministerpräsidenten konnte ich durch einen glücklichen Umstand  bereits einen Tag nach der Gründung der AGr mit dieser Tatsache vertraut machen.


In Berlin bestand eine ganz andere spezifische Situation. Es gab zahlreiche NRO mit großen Erfahrungen in Westberlin, ohne dass es zunächst zu einer breiten Zusammenarbeit mit den neuen Ostberliner Gruppen kam, die ihrerseits – gemessen an den anderen neuen Bundesländern – relativ groß waren (INKOTA, GSE, EPOG, OIKOS und SODI). Eine starke – in den anderen neuen Bundesländern nicht vorhandene – Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit ging bewusst auf die Ostberliner Gruppen zu und erwies sich als ausgesprochen kooperativ. In Mecklenburg-Vorpommern traf vorhandenes Basispotential mit entsprechendem Elan zusammen mit Bremer Hilfsbereitschaft und jahrzehntelangen Erfahrungen in Gestalt des Landesamtes für EZ und dessen Leiter Gunther Hilliges sowie einem umsichtigen westdeutschen Referatsleiter Herbert Sahlmann, in der EZ-Arbeit der SPD, des BMZ und der Kirche bewährt. Auch in Sachsen-Anhalt konnte die sich entwickelnde NRO-Szene von der Aufgeschlossenheit und dem Einfühlungsvermögen  der für EZ zuständigen Westbeamtin Frau Westermann profitieren. Verschiedene Initiativen des Landtags und der Friedrich-Ebert-Stiftung erleichterten die Arbeit der sich in Magdeburg und Halle herausbildenden Zentren mit recht unterschiedlicher Vergangenheit. Bemerkenswert war ein erstaunlich großes entwicklungs-politisches Interesse auf schulischem und kommunalem Gebiet. Zeitig wurde ein entsprechender Haushaltstitel eingerichtet. Die aus DDR-Zeiten in Dresden und Leipzig vorhandenen relativ starken personellen Reservoire fanden im neuen Bundesland Sachsen auf staatlicher Seite nur bei einigen wenigen Politikern wie Landtags-Vizepräsident Sandig und PDS-Abgeordneten Unterstützung. Die nach anfänglicher absoluter finanzieller Abstinenz gegenüber den Gruppen plötzlich auftauchende 1 Million DM erwies sich schnell als ein propagandistisches Manöver der Landesregierung mit dem Hintergrund der Exportförderung für westdeutsche Konzerne  mit einem Standbein in Dresden, Leipzig oder Chemnitz in Richtung osteuropäische „Nichtentwicklungsländer“. Auch in Thüringen erfuhren die aktiven Gruppen bei ihrer Landesregierung lange Zeit keinerlei nennenswerte Hilfe, trotz der großen EZ-Erfahrung gerade des Ministerpräsidenten Vogel in früheren Jahren in Rheinland-Pfalz. In Weimar bildete sich allmählich eine „Insel“ kommunaler EZ heraus. Aus den Länderparlamenten kam eine außerordentlich geringe Unterstützung für entwicklungspolitische Fragen, wobei die Grenzen - außer bei den Grünen und bei der PDS - quer durch die Fraktionen gingen. Eine aufrüttelnde konstruktive Rolle spielte - wie erwähnt - im Osten der zentrale Entwicklungspolitische Runde Tisch unter Leitung von Walter Bindemann.


Obwohl es sich ja nicht um einen absoluten „Erststart“, sondern um einen „Neustart“ bei Nutzung vorhandener Erfahrungen und Potentiale handelte, waren die Startbedingungen in allen neuen Bundesländern außerordentlich schwierig. Wir in Brandenburg entwickelten ab 1991  unser Konzept des „Brandenburgischen entwicklungspolitischen Experiments“. Ausgehend von unserer Arbeitsgruppe an der Universität und danach vom Brandenburgischen Entwicklungspolitischen Institut e.V. (BEPI)  wurde bei den Nord-Süd-Gruppen und bei den staatlichen und anderen Institutionen dieser Begriff bald zu einem festumrissenen Faktor des Miteinander-Umgehens, dessen Umsetzung auch in den anderen Bundesländern große Aufmerksamkeit erfuhr. Die „strategische Linie“ des Experiments bestand darin, die Beziehungen zwischen den entwicklungspolitischen Gruppen und Initiativen einerseits und dem Staat bzw. der Landesregierung andererseits, also die Frage des Verhältnisses zwischen ihnen, als zentrale Frage brandenburgischer EZ herauszustellen. Dabei ging es erstens um das Zusammenwirken mit allen in Brandenburg entwicklungspolitisch Interessierten guten Willens und zweitens um den Verzicht auf Fundamentalopposition um jeden Preis, die potentielle Verbündete und Partner vor den Kopf gestoßen hätte, ohne dabei jedoch auf ein kritisches Miteinander zu verzichten. Mit den ersten Schritten war ich gemäß dem Vorsatz, stets mit der entwicklungspolitischen Basis einerseits und mit der Politik und ihren Apparaten andererseits zu reden und zwischen ihnen zu vermitteln und sie möglichst zusammenzubringen, mit einer kuriosen Situation konfrontiert, die mich an jenen von Franz Fühmann „konstruierten“ Dolmetscher erinnerte, der am Rande des Mittelmeeres zwischen Xerxes und Cäsar fungieren sollte und feststellte, dass der eine nicht Lateinisch, der andere nicht Persisch verstand, außerdem entstammten beide verschiedenen Jahrhunderten (Franz Fühmann, Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm zu Babel, Berlin 1978).

 

Während man uns anfangs von allen Seiten skeptisch gegenüberstand, da uns ja der Stallgeruch der DDR-Staatsnähe und in der Regel auch der SED-Mitgliedschaft anhing, wollten politische Parteien von uns zunächst nichts wissen. Es dauerte allerdings nur wenige Monate, und hinter vorgehaltener Hand wurde man in Kenntnis gesetzt, dass eine Mitgliedschaft (in einer der neuen Parteien) durchaus denkbar sei. Ich nahm mir vor, ohne Mitgliedschaft in einer der politischen Parteien mit allen von ihnen möglichst eng auf entwicklungspolitischem Gebiet bei parteipolitischer Unabhängigkeit zusammenzuarbeiten. An der Wiege unseres Projekts 1991, ganz besonders aber bei der Weiterführung Mitte 1993 standen ein F.D.P.-Minister und Abgeordnete der SPD, der PDS und von Bündnis 90, moralisch unterstützt von einzelnen Abgeordneten auch der CDU-Fraktion, die allerdings kein offizielles Mandat hatten. Aber auch die beiden Fraktionschefs der CDU, anfangs Dr. Peter-Michael Diestel, danach Dr. Peter Wagner, versicherten mich ihrer Sympathie und Unterstützung auf unserem Weg. Auch unsere kritische Haltung zu den erwähnten Positionen und Vorkommnissen fanden im Gespräch die Unterstützung der Vertreter aller Fraktionen bzw. sogar der Fraktionschefs, so dass man auch hier von einer parteiübergreifenden Unterstützung in bestimmten Fragen sprechen konnte, was wesentlich dazu beitrug, dass es trotz allem vorwärts ging.


Die Arbeitsgruppe wurde der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam zugeordnet, deren Dekan zu dieser Zeit Prof. Dr. Karl Rohe war, der aus Nordrhein-Westfalen nach Potsdam geeilt war. Mit der Leitung der Arbeitsgruppe wurde ich beauftragt. Karl Rohe, mit dem ich mich in längeren Abständen, aber regelmäßig zur gegenseitigen Information und Beratung traf, war ein verständnisvoller und sachlicher Gesprächspartner. Von ihm erhielt ich allerdings auch die erste Unterweisung in parteipolitischer Praxis der Bundesrepublik. Auf meine Bemerkung , dass bestimmte Parteien begännen, sich für uns zu interessieren, ich jedoch die Absicht hätte, von meiner Nichtzugehörigkeit zu einer Partei durch enge Zusammenarbeit mit allen zu profitieren, zumal ich 36 Jahre Mitgliedschaft in einer politischen Partei in der DDR als für dieses Leben ausreichend ansehe, machte er mich darauf aufmerksam, dass dieser Standpunkt sicher nicht sehr nützlich sei, da „dieser Staat ein ausgesprochener Parteibuchstaat“ sei. Meine nachhakende Frage, ob er die DDR meine, wurde eindeutig verneint. Nachdem am Tag der Aufnahme unserer Tätigkeit auch die Universität Potsdam als größte Hochschule des Landes Brandenburg gegründet wurde, nicht „auf der grünen Wiese“, sondern sich auf verschiedene Vorgängereinrichtungen stützend, erhielt unsere Arbeitsgruppe einen außerordentlich spezifischen Status: Arbeitsgruppe „Brandenburg in der Dritten Welt“ an der Universität Potsdam.


Aus der AGr „Brandenburg in der Dritten Welt“ an der Universität Potsdam wurde über verschiedene entwicklungsbedingte Zwischenstufen (an denen auch der World University Service Wiesbaden recht förderlich beteiligt war) das erwähnte unabhängige BEPI mit e.V.-Status und NRO-Charakter. Faktisch waren wir bereits ab 1991 das erste funktionierende entwicklungspolitische Landesnetzwerk in den neuen Bundesländern, das tatsächlich auf einer Vielzahl von Gebieten gesamtbrandenburgisch wirkte, in der Landeshauptstadt mit Erfolg für die Nord-Süd-Szene politische Lobbyarbeit und Interessenvertretung praktizierte, ein breites Beratungssystem entwickelte und als einzige entwicklungspolitische Institution  regelmäßig in 11 regionalen Treffpunkten mit allen Gruppen und Initiativen zusammentraf. Dieser Zustand wurde als Selbstverständlichkeit angesehen, ohne dass eine Mitgliedschaft von Gruppen dafür eingeführt werden musste. Der Doppelcharakter dieser Funktion bestand darin, dass es sich um eine Institution mit Netzwerkcharakter und selbstgestellter spezifischer landesweiter Aufgabenstellung handelte, andererseits um eine NRO neben vielen anderen. Später haben wir auch in anderen Bundesländern bei der Formierung von Landesnetzwerken mitgeholfen. Im Laufe der Jahre entstand ein außerordentlich spezifisches System der Kombination von hauptamtlicher und ehrenamtlicher Arbeit, über das wir viele unterschiedliche Kräfte mobilisierten. Ich selbst hatte mich in jenen Jahren als eine Art Verbindungsmann zwischen alten und neuen Erfahrungen, zwischen Brandenburg und anderen neuen Bundesländern, zwischen Ost und West in Gestalt der neuen und der alten Bundesländer gefühlt. Für uns traf zu, dass wir zunächst lokal wirkten, dann gesamtbrandenburgisch in entwicklungspolitischer Hinsicht, zunehmend auch gesamtgesellschaftlich in Brandenburg, schließlich bundesweit und damit gesamtnational und in bescheidenen Ansätzen zusammen mit Einrichtungen im Ausland. Die AGr und später das BEPI waren stets bemüht, mit allen Komponenten dieses komplizierten Beziehungsgeflechts Arbeits-methoden zu entwickeln, die eine jede von ihnen für das entwicklungspolitische Vorankommen im Lande nutzbar machen konnte. Dazu gehörte es, die Kommunikationsstränge zu den Gruppen und Initiativen im Lande ständig zu verstärken.


Mitte der neunziger Jahre hatten wir als Resultat unseres Ringens um den Erfolg


  1. die Praxis der jährlichen Vier-Augen-Gespräche zwischen dem Ministerpräsidenten und mir als Vertreter der nichtstaatlichen Seite;
  2. die Praxis der Fünf-Stufen-Gespräche zwischen uns und der staatlichen Seite (1. mit den zuständigen Abteilungsleitern der drei direkt EZ-berührten Ministerien, 2. mit den drei Ministern, 3. mit dem für EZ zuständigen Landtagsausschuß, 4. mit den Fraktionsvorsitzenden, 5. mit dem Ministerpräsidenten) über die Probleme unserer Tätigkeit und über Erfordernisse des entwicklungspolitischen Tätigwerdens der Landesregierung und ihrer Ministerien sowie des Landtags und seiner Fraktionen;
  3. den offenen Zugang zu allen Fraktionen und Ministerien und anderes mehr.  Allmählich versuchten wir auch im Westen Fuß zu fassen, entwicklungspolitische „Außenbeziehungen“ für Brandenburg aufzubauen. Bald sprach man in Insider-Kreisen von der „Westausdehnung“ unserer Arbeitsgruppe bzw. des Instituts, von unserer „Invasion des Ostens“, bei der wir ungeheuer viel gelernt haben.


Als ein Kardinalproblem stand von der ersten Minute an die Frage des Zusammenfindens oder Nicht-Zusammenfindens der „Ossis“ mit den „Wessis“ und umgekehrt. Das vollzog sich auf der Gruppenbasis und in der NRO-Szene im weitesten Sinne generell nahezu ohne Schwierigkeiten. Das Haupthindernis lag in den neuen Bundesländern, ihren Landesregierungen und deren Apparaten in den Beziehungen zu denen, die „gerufen“ wurden oder auch ungerufen kamen. Wir Älteren hatten noch die Erfahrungen aus dem (sowjetischen) Beratersystem in den Anfangsjahren der DDR (Schulwesen, Lehrerbildung, bewaffnete Kräfte). Damals kamen Fremde, ehemalige Feinde, und aus ihnen wurden „die Freunde“, vielfach nicht ohne Komplikationen, in der Regel aber mit einem  nicht unwesentlichen Nutzeffekt, oft auf beiden Seiten. Jetzt kamen wieder Fremde (wenn auch mit etwa der gleichen Sprache), nach der Theorie des Klassenkampfes auch ehemalige Gegner. Die Frage lautete: Was kommt da auf uns zu ??? In den meisten Fällen wurde uns erst einmal massiv beigebracht, „was Sache ist“. Wie es in der DDR war, wie wir gelebt haben, Stasi und Bautzen, der Unrechtsstaat und die unerträgliche Unterdrückung . . . Ernest Hemingway fällt mir dazu ein: “Es war, als lese man die Schilderung einer Schlacht, die man geschlagen hatte, beschrieben von Leuten, die nicht nur nicht dabei gewesen, sondern in manchen Fällen noch nicht einmal geboren waren, als die Schlacht stattfand. All diese Leute, die über mein Inneres und Äußeres schrieben, taten das mit einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein, das ich selbst so nie besessen habe.“


Als marxistisch geprägte Historiker hatten wir sowieso Vorbehalte gegen bürgerliches Berufsbeamtentum (teilweise sicher auch zu Unrecht) und hörten nun von Manfred Stolpe und Regine Hildebrandt im Landtag mit Erleichterung, dass „so etwas in Brandenburg auf gar keinen Fall erst eingeführt wird“. Aber - es kam dann völlig anders und böse Ahnungen bestätigten sich en masse. Zunächst kaum eine positive Ausnahme. Und dann lernten wir solche wie Gunther Hilliges und Herbert Sahlmann kennen und fragten: “Die sind auch Beamte? Aber die reden doch von Mensch zu Mensch!?“ In einer Debatte an der Verwaltungshochschule in Speyer, zu der Kambiz Ghawami und ich auch zu eigenen Beiträgen eingeladen worden waren, erklärte uns unter sechs Augen der Personalchef des Bundestages die Prinzipien der Auswahl bzw. des Sich-selbst-Delegierens in den Osten. Und manches begann ich zu begreifen. Bis heute ist mir nicht klar, ob der Kollege damals Geheimnisverrat beging. Heute wissen wir, dass Brandenburg das Land war, in dem u.a. im Justizministerium (zu dem die Europa- und die Entwicklungspolitik gehörte) Justizbeamte eingestellt wurden, die im Westen gerade durch das Examen gefallen waren. Auch diese erhielten viele Jahre eine „Buschzulage“ und üppige Trennungsentschädigungen, viele - wie sich gerade heute herausstellt - zu Unrecht. Und von Entwicklungspolitik / Entwicklungszusammenarbeit hatten sie obendrein keine Ahnung.


Ich persönlich hatte mit einem nicht kleinen Teil der importierten Beamtenschaft regelmäßig meine Probleme. Das hing mit deren Grundhaltung zu uns im allgemeinen und zu unserem entwicklungspolitischen Arbeitsgegenstand im besonderen zusammen, zum zweiten aber lag es an ihrer systematischen destruktiven und unkonstruktiven Haltung zu solchen Fragen, die ich meinerseits mit dem Ministerpräsidenten längst geklärt hatte. Ein Vorgehen an der Beamtenschaft vorbei war bei dieser naturgemäß sehr unpopulär. Aber den Weg zu den Politikern gingen wir vor allem wegen der zumindest damals außerordentlich geringen Bereitschaft zur Kooperation bei einem großen Teil der Beamten. Und diese Strategie habe ich mehr als zehn Jahre lang durchgehalten, auch wenn manche aufgebaute Bastion als unüberwindliches Hindernis erschien.


Grundübel generell - und gerade für das junge entwicklungspolitische Feld äußerst hemmend und existenzgefährdend - war der Widerspruch zwischen politischer Unterstützung durch Teile des Parlaments und des Kabinetts und der - gelinde und zurückhaltend ausgedrückt - massiven Borniertheit (z.B. bei der Arbeitsverwaltung, die für die „universitären ABM“ meiner Mitarbeiter zuständig war), der „behördlich-beamtischen“ Behinderung unserer Tätigkeit durch die Ministerien, diktiert vom Unwillen gegenüber der Tatsache, dass sich Leute wie wir um einen solchen Arbeitsgegenstand kümmerten, der vielen Beamten als (im Osten) absolut überflüssig erschien, anderen zumindest völlig gleichgültig war. Viele der „Berater“ und „Entwicklungshelfer“ traten permanent und kontinuierlich als eine Art Oberlehrer und Großinquisitor auf. Die Referatsleiter EZ wurden von einem bestimmten Zeitpunkt an ausschließlich mit Beamten des Auswärtigen Amtes besetzt, die nicht nur genau wussten, dass sie nach relativ kurzer Zeit wieder in den diplomatischen Dienst zurückkehren und alles „hinter sich zurücklassen“ würden, sondern in der Regel auch noch geprägt waren durch die Gepflogenheiten und Auswirkungen der Hallstein-Doktrin, des Ost-West-Konflikt und des Kalten Krieges während ihrer Auslandseinsätze (siehe Werner Kilian, westdeutscher Autor: Die Hallstein-Doktrin. Der diplomatische Krieg zwischen der BRD und der DDR 1955 bis 1973, Berlin 2001). Hinzu kam in unserem Universitätsumfeld,  dass in den neuen Lehrstühlen und Instituten recht schnell ein beispielloses Gerangel unter den verbliebenen ostdeutschen Kollegen, zwischen den „eingeflogenen“ neuen westdeutschen Kollegen untereinander sowie zwischen den letzteren und ersteren einsetzte. Heute weiß man, dass diese Auseinandersetzungen verhältnismäßig rigoros und rücksichtslos, mit den „Ellenbogen“ geführt wurden und es bereits ein Vorzug war, nicht aus dem Osten zu stammen. Wer das heute bestreitet, war entweder nicht dabei oder hat ein spezifisches Interesse, diese Vorgänge zu verschleiern. Bei Personalentscheidungen über die mit EZ befassten Stellen in Staatskanzlei und Ministerien herrschte völlige Willkür unter ausschließlich westdeutscher Regie, wie zahlreiche Fälle zeigten, an denen wir lange zu „knappern“ hatten.


Heute noch sind wir verblüfft, wie unbeschädigt einige arrogante Wenig-Könner im Rechtsstaat erheblichen Schaden anrichten konnten, nur weil sie Beamtenstatus hatten und nur weil wir uns hier im Osten in den fünf neuen Ländereien befanden. Uns half, dass wir uns unabhängig genug wähnten, um ohne Furcht vor dem neuen Apparat zu agieren, dass wir die wachsende Fähigkeit entwickelten, die „Schädigungsfähigkeit“ der anderen Seite einzudämmen bzw. zu eliminieren. In den öffentlichen Debatten wurde das Kind immer öfter beim Namen genannt, wenn es sich nach unserer Meinung um reine Sabotage und „Wessi-Kolonialismus“ handelte (Jahre später stimmte uns ein dafür mitverantwortlicher hochrangiger Wahlbeamter aus NRW bei seiner Verabschiedung in Potsdam erstaunlicherweise terminologisch uneingeschränkt zu!).


Auch auf höchster Ebene begann ich, das politische Problem der „Überwestung“ anzuprangern. Am 08.06.1996 nahm ich an der Gründung des unter Leitung von Manfred Stolpe stehenden Forums Ostdeutschland der SPD in den neuen Leipziger Messehallen teil. Da auf dieser Konferenz die spezifischen ostdeutschen Fragen eine Rolle spielen sollten, nahm ich mir vor, über einige negative Erfahrungen dort zu sprechen, die wir mit dem „Apparat“ gesammelt hatten. Die Organisation im Plenum war allerdings so, dass nur vorbereitete, in Auftrag gegebene Beiträge gehalten werden konnten und damit der zeitliche Ablauf voll ausgefüllt war. Nun war guter Rat teuer. Ähnliche Regelungen galten für die Arbeitsgruppen am Nachmittag, an dem ich in der von Dr. Manfred Stolpe und Dr. Hans Misselwitz geleiteten Arbeitsgruppe mitwirkte. Aber der Organisationsgott schien mir wohlgesinnt zu sein. Irgendjemand hatte entweder zu schnell gesprochen oder die Organisatoren hatten den Zeitfonds falsch berechnet. Auf alle Fälle ergab sich gegen Ende der Beratung eine zeitliche Lücke, in die ich schlüpfen konnte. Und so trug ich meine Meinung vor zum Thema: „Hauptaufgabe in den ostdeutschen Bundesländern – Rückbau der westdeutschen Dominanz in den Landesregierungen unter besonderer Bezugnahme auf Brandenburg“. Großer Beifall der überwiegend ostdeutschen Teilnehmer und nur wenige verbissene Gesichter bei anderen waren das Resultat des offenen, aber in jeder Hinsicht ehrlich gemeinten Beitrags. Später bezogen sich beide Seiten immer wieder auf diesen Beitrag, ohne das sich Entscheidendes änderte. Das angekündigte Protokoll dieser Tagung erschien leider nie. Mit zunehmender Veränderung des Kräfteverhältnisses gab es in personeller Hinsicht auch einige wenige Fälle, wo absolute Fehlbesetzungen auf unserem Fachgebiet unter Einschaltung Dr. Stolpes und „unter Beachtung des Beamtenrechts“  korrigiert wurden. Eine sehr gute ausgleichende Rolle, die viele Unerträglichkeiten abschwächen oder schließlich beseitigen half, ja uns von einem bestimmten Zeitpunkt an mehr oder weniger offen unterstützte, spielten die für uns zuständigen Minister Dr. Enderlein und Dr. Bräutigam sowie Staatssekretär Broüer. Dennoch hielt sich  das Gerücht vom Beamtenschreck Hundt, auch dies ein absolut falscher Zungenschlag. Wahrheit war, dass man im Umgang mit dem Apparat bald ohne Furcht war vor dem für uns in bestimmten Zügen noch neuen Establishment mit seinen Verästelungen, Verquickungen und Hierarchien, zum Teil voller Unaufrichtigkeit und in Einzelfällen praktiziert als Einheit von devoter Höflichkeit und wildem Intrigantentum. Viele  Mitarbeiter der Landesregierung, mit denen wir in zunehmendem Maße zu tun hatten begriffen allmählich, dass meine kritische Position nicht etwa als „negative Haltung gegen das Neue“ ausgelegt werden konnte, sondern dass es uns um das gemeinsame Vorankommen ging. Übrigens konnte man noch stärkeren Tobak auch auf Konferenzen in Westdeutschland hören. So bot uns der Oberbürgermeister einer großen niedersächsischen Stadt ein Musterbeispiel dafür, als er uns auf einer Konferenz quasi einzureden versuchte, wir seien knapp 17 Millionen täglich gefolterter Vollidioten gewesen, mental auf Säuglingsniveau, die jetzt erst durch Leihbeamte zum Denken gebrachte werden müssen.


Dieser Krebsschaden  unserer neuen Verwaltung, mit dem wir in unserer entwicklungspolitischen Arbeit fast täglich konfrontiert waren, ließ uns zeitweilig jene fleißigen und bescheidenen Helfer aus den alten Bundesländern übersehen, die ihre Arbeit unspektakulär im Stillen verrichteten. Allerdings war auch festzustellen, dass gutwillige, anfangs freundliche Mitarbeiter bald auf Zurückhaltung uns gegenüber getrimmt wurden, die so gar nicht zu ihnen passte. Auch unter dem Aspekt des Kräfte-Sammelns und der Zusammenführung aller Potentiale und Kräfte halfen uns bestimmte Aktivitäten von Freunden oder Kollegen aus den alten Bundesländern. Das sei auch gesagt angesichts der vorangegangenen negativ-kritischen Bemerkungen über unsere „Gastarbeiter“. An dieser Stelle müsste eigentlich eine lange Liste von westdeutschen Freunden und Kollegen erscheinen, deren freundschaftlicher und kollegialer Umgang mit uns im krassen Gegensatz zu den angedeuteten Erscheinungen in der Potsdamer Administration standen. Für mich persönlich waren das aus der EZ Gunther Hilliges, Dr. Kambiz Ghawami, Prof. Dr. Hans-Walter Scherbarth, Dr. Jürgen Varnhorn, Lutz Frenzel, Norbert Noisser, Monika Löffler u.a.; aus der Wissenschaft die Professoren Uwe Holtz, Franz Nuscheler, Rolf Hofmeier, Rainer Tetzlaff und Peter Waller sowie Dr. Klaus Freiherr van der Ropp u.a.


Die Jahre nach Ende 1993 waren sowohl Jahre manchmal unüberschaubarer Wirren als aber vor allem auch Jahre der Stabilisierung, sie waren für uns echte „Kampfjahre“, in deren Auseinandersetzungen es für die Entwicklungszusammenarbeit und ihre Aktivisten um Sein oder Nichtsein ging. So unangenehm jedes einzelne Vorkommnis für sich genommen war, so wurde es dennoch schnell verdrängt, da wir eigentlich stets mehr oder weniger erfolgreich aus den Auseinandersetzungen hervorgingen. Zusehends veränderte sich natürlich auch ein gewisses Kräfteverhältnis zu unseren Gunsten. Bestimmte hier geschilderte Sachverhalte, deren Inhalt nicht selten zwischen unangenehm und peinlich schwankte, wurden naturgemäß durch den Wust der stehenden Aufgaben schnell vergessen. Aber sie sind natürlich Teil unserer Geschichte, auch Teil der Geschichte des Ringens um Entwicklungszusammenarbeit in den neuen Bundesländern. Seit Gunther Hilliges und Hans-Walter Scherbarth wusste ich, dass man auch Wessis zum Freund haben kann – eine Erkenntnis, die zu gewinnen unter brandenburgischen Bedingungen schier unmöglich schien angesichts des herangeschwemmten Strandguts und der Überwestung des Apparats, mit dem wir zu tun hatten!


3. Der Bremer Gunther Hilliges – Prototyp mit Vorbildwirkung oder Einzelfall?


Wenn BEPI und seine Vorläufer das Rückgrat der brandenburgischen EZ-Entwicklung von 1990 bis 2001 darstellten, so sind die Kontakte zwischen Gunther und mir in dieser Zeit und darüber hinaus bis heute ein Abriß westdeutsch-brandenburgischer, westdeutsch-ostdeutscher engster Zusammenarbeit mit hoher Intensität und Effektivität. Gunther hat ein Stück Brandenburger EZ mitgeschrieben und ohne seine Unterstützung, seinen Rat und seine Hilfe wäre mir und uns manches nicht gleichermaßen gut gelungen. Die Liste der Stationen unserer Erst- und Folgekontakte beweist, dass diese Beziehungen – trotz der politischen Misstöne auf der Ebene der „Großen Politik“ – folgerichtig verliefen und mit Konsequenz von beiden Seiten betrieben wurden.


Im Februar 1990 - wir kannten uns damals noch nicht - nahmen wir beide auf Einladung von Walter Bindemann am Entwicklungspolitischen Runden Tisch teil, und Gunther legte Bremer Erfahrungen dar. Ein Jahr später im Februar 1991 trafen wir erneut aufeinander auf der Gründungsversammlung von Germanwatch, bei der ich Interessen der anwesenden Ostdeutschen klarzumachen versuchte. Im November des gleichen Jahres folgten wir beide einer Einladung des Mainzer Büros zur Tagung „Weltoffene Städte . . .“ im Bonner Gustav-Stresemann-Institut, das wir beide - aus unterschiedlichen Startlöchern kommend – zum „Mutterhaus“ der Versuche eines westdeutsch-ostdeutschen entwicklungspolitischen Schmelztiegels machen halfen. Auch alle folgenden Bundeskonferenzen der Nord-Süd-Foren und der Kommunen sahen uns als aktive Mitgestalter, wobei Gunther von Anfang an einer der Hauptinitiatoren war. Im Dezember 1991 referierten wir beide – wie Gunther damals sagte, als die zwei Vertreter der ersten beiden deutschen Ampelkoalitionen in Bremen und Brandenburg – auf der 83. Tagung der Evangelischen Akademie Iserlohn (eine Qualifizierungsveranstaltung für leitende Beamte im Auftrag der NRW-Staatskanzlei) zum Thema „Kommunale Nord-Süd-Partnerschaften“. Weitere gemeinsame Stationen waren die Quadrilog-Tagungen von Parlamenten, Regierungen, Kommunen und NRO, Konferenzen von Towns and Development, Beratungen der entwicklungspolitischen Memorandumsgruppe in Bonn jeweils vor Bundestagswahlen, die gemeinsame jahrelange Arbeit im Bund-Länder-Ausschuß EZ und auch in dessen Arbeitsgruppe Bildung und Information, der Lokale Agenda 21-Prozeß, das Ringen um die Servicestelle Kommunen in der Einen Welt, der Aktionskreis Nord-Süd des SPD-Parteivorstands (dem ich als Parteiloser angehörte), der engere Kreis des bundesweiten Forums Eine Welt der Bundesministerin und Stellv. SPD-Vorsitzenden Heidemarie Wieczorek-Zeul, zahlreiche entwicklungspolitische Bildungskongresse, Bundestreffs der entwicklungspädagogischen Informationszentren sowie ungezählte zumeist von WUS initiierte oder mitinitiierte andere einschlägige Tagungen, wodurch übrigens als dritter enger Freund Kambiz Ghawami ins Spiel kam. Unsere zunächst letzte Tagung war die im wesentlichen von Gunther forcierte Namibia-Konferenz des Bremer Senats mit der Bundesministerin und hochrangigen Herero-Häuptlingen sowie kirchlichen Würdenträgern

im November letzten Jahres, bei der ich erneut Gelegenheit hatte, vor allem taktisch eine Menge zu lernen.


Hinter dieser nur auszugsweisen Aufzählung von gemeinsamen Aktivitäten verbirgt sich jedoch praktisch-politisch und methodisch eine breite Palette gemeinsam gelöster Aufgabenstellungen, bei der gegenseitige Beratung und Hilfeleistung und gemeinsames Agieren als Quelle eines vor allem für mich und uns wichtigen Lernprozesses dienten. Die Formen der Arbeit waren jeweils unterschiedlich und außerordentlich vielfältig und vielseitig: sie reichten von der gemeinsamen Konferenzteilnahme über gemeinsame Auftritte als Referenten aus dem Westen und aus dem Osten, zunächst in den alten Bundesländern, später zunehmend auch in den neuen, bis zur Arbeit gemeinsam und mit anderen in Redaktionskommissionen und an längerfristig wirkenden Dokumenten. Gunther leistete uns in Brandenburg Hilfe als Berater, als Erfahrungen vermittelnder Referent, selbst in  vielen von mir vorbereiteten Gesprächen mit führenden brandenburgischen Politikern.


In einigen Fällen arbeiteten wir gemeinsam an taktischen Konzepten mit bundesweiter Wirkung, z.B. hinsichtlich der entwicklungspolitischen Landesbeamten-Qualifizierung und beim Versuch der Einflussnahme auf die Ministerpräsidenten-Konferenz bezüglich von EZ-Grundsatzfragen. Eine zunächst auf Landesebene initiierte Aktivität, die aber auf bundesweite Folgen ausgerichtet war, ergab sich aus einem der vielen Gespräche, die ich mit Gunther Hilliges führte. Wir stimmten überein in der Auffassung, dass man etwas tun müsse, um die Konferenzen der Ministerpräsidenten der 16 Bundesländer – der sogenannten MPK – wieder einmal stärker auf Probleme der Entwicklungszusammenarbeit hinzulenken. Wir kamen beide überein, dass man diesen Prozeß über einige entwicklungspolitisch aufgeschlossene Ministerpräsidenten der sogenannten A-Länder-Gruppe (SPD-geführte Bundesländer) initiieren müsse. Leider gab es niemand unter ihnen, der das Format eines Johannes Rau mit seinen Riesenverdiensten auf entwicklungspolitischem Gebiet hatte. Unsere Wahl fiel auf den seinerzeitigen Vorsitzenden des Forum Eine Welt des SPD-Parteivorstands, den Bremer Bürgermeister (und Ministerpräsidenten) Dr. Henning Scherf, mit dem Gunther Hilliges diesbezüglich sprechen wollte, und auf Dr. Manfred Stolpe, auf den ich zugehen wollte. Als dritten im Bunde hatten wir Wolfgang Clement, den Ministerpräsidenten des entwicklungspolitisch sehr verdienstvollen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, ausgewählt, und es ergab sich die Frage, wer spricht mit ihm? Nachdem sich niemand um diese Aufgabe riß, übernahm ich auch dieses Gespräch. Alle Gespräche dienten einem Gedankenaustausch über die Erhöhung der Rolle der Ministerpräsidentenkonferenz der deutschen Bundesländer bei der Unterstützung der Entwicklungszusammen-arbeit und der entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen. Dazu unterbreiteten Hilliges und ich eine Reihe konkreter Vorschläge, die von den drei Ministerpräsidenten befürwortet und ergänzt wurden und von ihnen in die MPK hineingetragen werden sollten. Die Initiative dazu sollte unserer Meinung nach von Henning Scherf ausgehen, der zu jener Zeit zufällig auch Vorsitzender der MPK war. Gunther und ich erklärten uns zur Teilnahme an diesem Gespräch bereit, falls die Ministerpräsidenten dies für nützlich halten sollten. Nach ihrem Dreier-Gespräch sollten die Ergebnisse in einer Beratung mit den anderen Regierungschefs der A-Länder ausgetauscht werden, um sie für eine Mitwirkung bei der Umsetzung zu gewinnen. Die Ministerpräsidenten der A-Länder sollten sich dafür einsetzen, dass Grundsatzfragen der deutschen EZ jährlich einmal auf die Tagesordnung der MPK kommen. Im Jahr 2000 sollte dies in Anwesenheit der Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung erfolgen. Auch dazu erklärten wir uns beide bereit, bei der Vorbereitung und Durchführung beratend mitzuwirken, falls dies gewünscht wird. Dr. Stolpe schlug im Gespräch mit mir zusätzlich vor, eine Initiative zur Unterstützung der entwicklungspolitischen Bemühungen in den neuen Bundesländern über das unter seinem Vorsitz tätige Forum Ostdeutschland der SPD auszulösen.


Und ein letztes Beispiel: Im Februar 2001 tagte in Bonn der 8. Bundeskongreß der entwicklungspolitisch tätigen Initiativen und Institutionen der verschiedensten Bereiche und Ebenen (der Nachfolger der Bundeskongresse der Nord-Süd-Foren und Kommunen). Da der spiritus rector dieser Bundeskonferenzen, Gunther Hilliges, ans Krankenbett gefesselt war, wurde mir die Aufgabe übertragen, den Kongreß zu eröffnen und die Eröffnungssitzung zu leiten. Ich betrachtete das in gewisser Beziehung als Anerkennung der Leistungen, die NRO in den neuen Bundesländern im Osten in den vergangenen zehn Jahren erreicht hatten, darunter unser Institut als eine herausgehobene Einrichtung. Auch persönlich sah ich den Auftrag als eine Ehre an. So bot mir das die Gelegenheit, in meinen Eröffnungsbemerkungen die Tradition dieser Bewegung ausführlich zu behandeln, besonders von dem Zeitpunkt an, als die ostdeutschen Gruppen und Kommunen  zu ihr stießen. Da nur eine verschwindend kleine Zahl von ostdeutschen Delegierten anwesend war, bot das die Gelegenheit, den westdeutschen Freunden den seinerzeitigen Beginn des Prozesses des Zusammenwachsens dessen, was zusammen gehört, auf dem vielleicht einzigen relativ schnell erfolgreichen Gebiet in Erinnerung zu rufen.


Auch in komplizierten Situationen, in denen beispielsweise die finanziell halbwegs gesicherte Existenz unserer Arbeitsgruppe oder später des BEPI ernsthaft bedroht war, wusste Gunther (oft im Zusammenwirken mit Kambiz Ghawami) einen Ausweg (z.B. für uns historischer Iserlohner Parkspaziergang Gunthers mit mir im März 1993, bei dem der Entwurf einer Skizze einer Außenstelle der WUS-Konsultationsstelle „Nord-Süd im Bildungsbereich“ für die neuen Bundesländer auf der Basis unserer Brandenburger Arbeitsgruppe mit Förderung durch die Landesregierungen und mit einem Drei-Jahres-Programm entstand). Selbst bei der maßgeblichen Mitfinanzierung bestimmter politisch „heißer“ Themenhefte unserer Schriftenreihe „Brandenburgische Entwicklungspolitische Hefte“, an deren Erscheinen wir und unsere Freunde in allen anderen Bundesländern ein brennende Interesse hatten, war Gunther ein Mitstreiter, der dienstliche Unterstützung organisierte und persönlich als Sponsor in Erscheinung trat. Daneben war Gunther auch in anderen neuen Bundesländern helfend tätig, beispielsweise bei der Gründung des ersten ostdeutschen Nord-Süd-Forums in Rostock. Es spricht für ihn und sein Bundesland - nicht zuletzt auch für seinen Ministerpräsidenten -, das ihm diesen solidarischen Spielraum ermöglichte.


Gunther Hilliges war stets ein fairer Bewerter der DDR-Entwicklungspolitik, auch offen für unsere kritische Haltung zu manchem in der BRD-EZ, auf dessen grundsätzliche Kritik zu verzichten wir auch unter „Westbedingungen“ auf keinen Fall bereit waren. Dabei trug er in all unsere Debatten beharrlich immer wieder solche für ihn unverzichtbare Grundthesen hinein wie: - auch der Norden muß sich entwickeln! - NRO müssen eine wichtige ganz spezifische Rolle spielen, die von niemand anders so wahrgenommen werden kann! Er war in vielen Fällen der Initiator meiner und damit unserer aktiven Einbeziehung in Debatten und Aufgabenstellungen. Stets forderte er unseren Eigenbeitrag, ob auf Konferenzen oder bei der Umsetzung von Beschlüssen, und er machte unentwegt Mut dazu. So wurde ich z.B. recht schnell vom anfänglichen Zuhörer zum Diskutanten, zum selbst Vortragenden und Referenten. Bei ihm und in seiner Szene war das von Anfang an Normalität, was selbst heute nach 15 Jahren auf bestimmten Gebieten immer noch Anormalität oder im besten Falle „Teil-Normalität“ ist: er betrachtete uns „Ossis“ als gleichberechtigte, erwünschte Partner, eine Haltung, wie ich sie später nur noch bei WUS, bei IAfEF oder Transparency International angetroffen habe. Seine nahezu uneingeschränkte Autorität ergab sich nicht zuletzt aus seiner „Mischfunktion“ als leitender Beamter und Chef einer staatlichen entwicklungspolitischen Behörde, als NRO-„Aktivist“ mit beispielhaftem Engagement und auch auf Grund seiner führenden Rolle in der EZ seiner Partei, was zusammengenommen eine besonders breite und vielseitige Erfahrung garantierte.


Gunther hat diesen Prozeß des gegenseitigen Kennenlernens und Schätzenlernens, aus dem in unserem Falle sehr schnell eine „problemgebundene“ und eine feste persönliche Freundschaft wurde, stets vorangetrieben. Im BEH 39/40, S. 14ff. hat er das aus seiner Sicht beschrieben und mir dafür gedankt. Der Dank kommt in erster Linie ihm zu - er war stets der Gebende, dem Dank für seine Aktivitäten bei uns gebührt. Ich danke ihm auch namens meiner Freunde aus dem ehemaligen BEPI und aus dem VENROB, aus den brandenburgischen Gruppen und Initiativen. Ich danke ihm persönlich für seine Freundschaft, die einem – auch in schlimmen Zeiten - stets ein gutes Gefühl gab, uns gegenseitig vieles vermittelte und uns bereicherte, uns oft neue Kraft gab. Da ich Gunthers Rolle für Bremen und als Vordenker und Initiator ungezählter bundesweiter (auch Europa-weiter) Aktionen sowie als Impulsgeber von Prozessen in Asien und Afrika kenne, frage ich mich immer wieder, wer in Deutschland und darüber hinaus in diese Fußstapfen treten wird, wenn es gilt, seine vielen Funktionen zu übernehmen und auszufüllen. Für Bremen wünsche ich Gunther - neben Gesundheit und persönlichem Wohlergehen – dass ihm und dem Landesamt für EZ  die Erfahrung nach seinem Abgang erspart bleibt, die ich nach meinem Ausscheiden aus dem aktiven Berufsleben entwicklungspolitisch mit der Großen Koalition in Brandenburg machen musste.      


4. Rolle und (Mit-)Verantwortung der Bundesländer für EZ – bis heute (im Osten) nur verbal akzeptiert!


Auch in dieser Frage kann Brandenburg als pars pro toto für die neuen Bundesländer stehen. Die Gegner und Ablehner einer (Mit-)Verantwortung der Länder für Fragen der EZ haben keine gewichtigen neuen Argumente für ihre Position. Trotzdem bedienen sie sich immer wieder der alten Leier (in Brandenburg - seinerzeitiger Entwicklungsminister Prof. Schelter: EZ ist

1. Bundessache, 2. Bundessache und 3. Bundessache; seinerzeitiger Chef der Staatskanzlei, jetziger Finanzminister und SPD-Vorsitzender der Stadt Potsdam Speer: bei EZ habe er „Zuordnungsprobleme“, will kein Wort mehr davon hören und verhängte eine Art von Kontaktverbot für seine Mitarbeiter). Unentwegt haben wir die Ministerpräsidenten und andere maßgebliche Politiker „berieselt“. Unsere Argumentationslinie ist bekannt, wurde oft gutgeheißen, oft bestätigt, oft beschlossen: Beschlüsse der MPK; Wahlprogramme aller Bundesparteien; SPD-Gesetzentwurf zur EZ in der Oppositionszeit; Maastricht-Vertrag mit der Kohärenz-Problematik; Entwicklungspolitische Leitlinien u.ä. auf Länderebene, auch Brandenburger Verfassung von 1992; Thesen Schwanenflügels von 1993 (gesetzliche Determinierung der EZ im Sinne von Artikel 28, 30 und 32 Grundgesetz und verfassungsrechtliche Einordnung der EZ im Zusammenhang mit den Kompetenztiteln von Bund, Ländern und Kommunen u.a.m.). Seit Jahren agiert auch eine unermüdliche Bundesministerin mit ihren Getreuen in dieser Frage. Aber die Realität der Umsetzung auf der Länderebene ist gelinde gesagt gleich Null!

 

Der politischen Grundsatzerklärungen sind genug, was wir weniger konstatieren, sind aktives, konsequentes Streiten um die Erfüllung der proklamierten Ziele und die Unterordnung der staatlichen Mittel unter diese Ziele. Immer mehr von uns sind des ständigen Abweichens kombiniert mit politischen Ausreden satt, zu denen sich immer eine Möglichkeit findet, die zur Notwendigkeit hochstilisiert wird. Selbst Gründe, die zur Erhöhung der Anstrengungen und der finanziellen Mittel für Entwicklungszusammenarbeit förmlich zwingen sollten, werden zum Hindernis dafür gemacht. Und es findet sich immer eine willige Exekutive, ein bereitwilliger Apparat, der uns gegenüber alles rechtfertigt, was eben angewiesen wird. Noch nicht einer von ihnen hat seinen Dienst aus Gewissensgründen quittiert oder auch nur damit gedroht, wenn es sich um unerträgliche Entscheidungen eben auf dem Gebiet der Entwicklungszusammenarbeit handelt. So möchte ich abschließend einen Fingerzeig geben auf den Krebsschaden unseres zurückgebliebenen entwicklungspolitischen Seins, zu dem bei manchen auch ein entsprechend zurückgebliebenes Bewußtsein gehört. Man spricht in unseren Tagen viel von Politikverdrossenheit der Menschen, nicht zuletzt vieler junger Menschen. Zu großen Teilen handelt es sich aber in Wirklichkeit um Verdrossenheit gegenüber denen, die Politik machen mittels des Instruments der politischen Parteien. Es handelt sich um Menschengruppen, die eigentlich sehr begeisterungsfähig, einsatz- und opferbereit, selbstlos und politisch hoch sensibilisiert sind, also so gar nicht verdrossen. Es gibt diesbezüglich - aber nicht nur in bezug auf EZ - eine ernsthafte Vertrauenskrise zwischen dem Staat/Landesregierungen und den entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen. Der hohe Grad an Unqualifiziertheit der Bekundung von Standpunkten und Positionen sowie des Vorgehens führte zu einer Riesenkluft zwischen Erklärungen und (entwicklungs-)politischer Realität.


Die Ursachen sind nicht im Haushalt der Länder zu suchen, sondern im Nicht-begriffen-Haben bzw. im Nicht-begreifen-Wollen des Stellenwertes der EZ in einer konstruktiven Gesamtpolitik der Länder (und des Bundes). Der Begriff der angeblich unveränderlichen Rahmenbedingungen wird diesbezüglich missbraucht, verfälscht, manipuliert, auf die finanzielle Seite eingeengt und beschränkt. Rahmenbedingungen der EZ werden von Menschen „übergeordneter Ebenen“ (global, national) geschaffen und erhalten somit scheinbar für Landesregierungen eine Art objektiven Charakter. Aber sie werden „vor Ort“ (auf Landesebene) von Menschen gemanagt, von denen es abhängt, wie diese Rahmenbedingungen auf der Länderebene zum Tragen kommen. Wie dies geschieht, wie sie zu „normalen“ Rahmenbedingungen für EZ, für Nord-Süd-Gruppen und Initiativen werden, hängt nunmehr vom subjektiven Teil ab, von Parlamenten, von Politikern und ihrem exekutiven Apparat, von deren politischen Programmen und dem Grad ihrer politischen Klarheit, was den weltpolitischen Stellenwert von Entwicklungspolitik betrifft.

 

Brandenburg durchlief eine erste recht erfolgreiche Variante über reichlich zehn Jahre. Es durchläuft jetzt seit einiger Zeit mit der Großen Koalition eine zweite, in der es EZ der Landesregierung und ihrer Ministerien real nicht mehr gibt und deshalb keinerlei Rahmenbedingungen mehr bedarf. Alle Erklärungen nach dem 11. September sind längst vergessen. Der ausgelöste Flurschaden durch Versagen erweist sich weitgehend als irreparabel. Existenz und Wirken von entwicklungspolitischen Institutionen und Gruppen im Lande hängen also von der subjektiven Frage ab, ob Landtag, regierende Parteien und Koalitionen, ob Politiker  in einem Bundesland sich als in der Lage erweisen, die angeblich ungünstigen Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Aktivitäten auf diesem Gebiet dennoch möglich sind. Unter diesen Politikern befanden sich auch solche, die durch Fehlentscheidungen in der Vergangenheit gerade diese Rahmenbedingungen herbeigeführt hatten.


Keinem der 13 bisherigen Ministerpräsidenten der neuen Bundesländer (10 „Ossis“ und 3 „Wessis“) fiel EZ als Bestandteil ihrer Politik von selbst ein, auch nicht Dr. Stolpe in Brandenburg. Beharrlich und ohne zu verzagen haben wir entwicklungspolitische Überlegungen, die unserer Meinung nach von landespolitischer Relevanz waren, an ihn und sein politisches Umfeld herangetragen, ihm „nahegelegt“, was bei ihm allerdings auf einen guten persönlichen Nährboden fiel. Oft haben wir unsere Politiker mit Erfolg „zur Jagd getragen“; Hauptsache die Jagd brachte eine „gute Strecke“, wie der Weidmann sagt, und die positiven Ergebnisse haben wir gern geteilt: ein Stück gutes Image für uns, ein Stück gutes Image für die Landesregierung. Egal, ob es sich um einen Ost- oder West-Regierungschef handelte – es gab lediglich graduelle Unterschiede. Auch auf dem Gebiet der EZ sind aus unseren ostdeutschen (Nach-)Wende-Männern Blende-Männer geworden. Dort, wo in Kabinetten oder Landtagen scheinbar von der Rhetorik her mit EZ „alles klar“ und offenbar unumstritten ist (was allerdings inzwischen kaum noch vorkommt – außer in Beiträgen der PDS), bedient man sich heimtückisch und mit besonderer Konsequentheit im Falle der EZ und ihrer Haushalttitel der „Geheimwaffe“ des Haushaltsvorbehalts. Allerdings macht sich in den neuen Bundesländern inzwischen kaum noch ein Politiker  die Mühe solcher geschilderten politischen Spielchen und Manöver. Diese sind in der Regel einer brutalen Anti-EZ-Politik gewichen. So gingen die brandenburgischen Koalitionsparteien den Weg, zunächst EZ-Mittel in den Plan einzustellen. Danach wurden diese einer fast unbegrenzten Haushaltssperre unterworfen, so dass sie den Gruppen dennoch nicht zur Verfügung standen. Im Folgejahr wurden die Mittel rapide gekürzt, um sie im Jahr danach wegen „augenfälliger Geringfügigkeit“ völlig zu streichen. Allerdings gab es bei allen drei EZ-Titeln in den nächsten drei Jahresbudgets eine symbolische Null, mit der angeblich Hoffnung auf Änderung irgendwann geweckt werden sollte. Erst danach verschwanden die Titel (einschließlich der Null) im Doppelhaushalt 2005/06 gänzlich. Demagogisch wurde im Landtag verkündet, die Bedeutung der EZ dürfe man nicht an der Höhe der Haushaltsmittel messen, zumal EZ als Querschnittsaufgabe und entwicklungspolitische Kohärenz bei uns ja verwirklicht seien.


Auch früher aktiv und kämpferisch an unserer Seite stehende Landtagsabgeordnete der heutigen Regierungsparteien zeichnen sich in dieser Situation mehr und mehr durch eine gewisse Resignation aus – vielleicht gestützt durch Parteidisziplin. Manchmal reicht es gerade noch zur Stimmenthaltung, wozu auch schon Mut gehört. Auch daraus ergibt sich selbstverständlich Mitverantwortung für die entstandene Misere.


Das „Brandenburgische entwicklungspolitische Experiment“ scheiterte nach elf erfolgreichen Jahren. Der CSU-Entwicklungs-minister und die CDU-Fraktion zeichneten sich aus durch die Kombination von Beschönigungen, Unaufrichtigkeiten, scheinheiligen Darstellungen und von einem partiell von Arroganz  und Inkompetenz getragenen Herangehen mit tendenziellen Verzerrungen, Halbwahrheiten, Unwahrheiten und - bewusst oder aus Unkenntnis - oberflächlich formulierten Falschaussagen und falschen Behauptungen, die nicht selten auch als Versuch der Täuschung der Abgeordneten verstanden werden konnten. Diese wurden hier und da vermischt mit echten Fakten. Bei der SPD handelte es sich um eine schwere Fehlleistung, eine unverständliche Fehlentscheidung der Fraktion, die gegen alle sozialdemokratischen Traditionen, aktuelle SPD-Beschlüsse und gegen die weltpolitischen Erfordernisse verstieß. In der Vergangenheit war die gleiche Fraktion im Landtag (durch uns und ihren entwicklungspolitischen Sprecher stimuliert) Impuls-Geber auf entwicklungspolitischem Gebiet gewesen. Um so bedauerlicher war das Abdriften in eine opportunistische Richtung schlimmsten Fahrwassers. Politische Kurzsichtigkeit wurde mit der Haushaltssituation gerechtfertigt. In beiden Fraktionen wurde sichtbar, dass es bekennende Gegner einer EZ auf Landesebene gab, aber auch getäuschte Mitläufer und vor allem auch Leute mit schlechtem Gewissen uns gegenüber. Alle tragen natürlich  gemeinsam Schuld an der entstandenen Situation. Irgendwann gibt es immer den Denkzettel!


Heute zeigt es sich, dass wir, die „Entwicklungspolitiker an der Basis“, gemeinsam in all den Jahren doch etwas bewegt haben. Auch das entwicklungspolitische Bewusstsein bei vielen Menschen im Lande ist nicht mehr das aus dem Jahr 1990, als wir wieder anfingen, aufbauend auf nutzbar Vorhandenem und Neuem. Viele Dinge erweisen sich als stabil, existieren weiter und wirken weiter. Das lässt die Bilanz des ohne Zwang Weggebrochenen und Aufgegebenen leichter ertragen.


Seit einiger Zeit gibt es in Brandenburg wieder Debatten zwischen den Partnern des einstmaligen Experiments, „außer über Geld“, wie die staatliche Seite zu Beginn eines jeden Gesprächs hervorheben zu müssen glaubt. Auf jedem anderen Gebiet beginnen die Gespräche ganz selbstverständlich damit. Messbare Schritte oder gar Taten, erst recht ein Abrücken von den Fehlern des Jahres 2002 und danach stehen noch aus. Die letzten nur schwer zu verstehenden Festlegungen zum Haushalt wurden oben erwähnt. Die Basis aber arbeitet aktiv und fleißig nach den Devisen „Trotz alledem!“ und „Nun erst recht und gerade!“ Einige ermutigende Zeichen kommen gegenwärtig nach langem Stillstand aus Thüringen, wo das Kultus- und das Umwelt-Ministerium gemeinsam mit dem NRO-Bereich sich anschicken, im Herbst mit einem zweitägigen Bildungskongreß „Nachhaltigkeit lernen und lehren“ im Rahmen der UN-Weltdekade „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ neue Impulse auszulösen. Steht zu hoffen, dass in allen neuen Bundesländern bald ein neuer entwicklungspolitischer Wind zu wehen beginnt, wie er oftmals in Sonntagsreden von Politikern, aber auch in diversen Grundsatzdokumenten der Parteien und der Bundesregierung und  verschiedentlich sogar in vergangenen Zeiten von einigen Landesregierungen immer wieder wenigstens verbal fixiert wurde!