Prof. Dr. Walter Hundt, Fichtenwalde


Erschienen in - geringfügig gekürzt - : „WeltTrends“ Potsdam/Poznan, Jg.2014, H. 97, S. 131-133  


Buchholz, Benjamin: Loya Jirga. Afghanischer Mythos, Ratsversammlung und Verfassungsorgan. Rombach Verlag KG, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2013, 280 S.


Ein afghanisches Parlament


Herausgeber des 2. Bandes der Reihe „Neueste Militärgeschichte. Analysen und Studien“ ist das Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam. Die Loya Jirga (Große Ratsversammlung) war und ist ein mit jeweils großen Hoffnungen ausgestattetes Instrument, das als traditionelles Stammesparlament die Probleme des heutigen Afghanistan auf seine spezifisch-typische Art lösen helfen sollte. Die Loya Jirga wurde von sehr unterschiedlich gearteten Regierungen über viele Jahrzehnte genutzt und angewandt, um die Macht zu sichern. Jede Loya Jirga widerspiegelt auf spezielle Art gesell-schaftliche Vorstellungen und Konstellationen der jetzigen historischen Periode. Nichtafghanische Lösungsansätze, um sie zu ersetzen, scheiterten bisher.


Über Jahrzehnte herrschte die Ansicht, eine traditionelle Institution früherer Zeiten an Erfordernisse der Gegenwart anpassen zu können. Eingangs des Bandes stehen eine Analyse der Geschichte der Loya Jirga im 20. Jahrhundert, eine begriffliche Klärung und theoretische Überlegungen dazu. Fakt ist, daß afghanische Staatsoberhäupter stets in Situationen, die außerordentliche Entscheidungen erforderten, auf die Loya Jirga zurückgriffen. Sei es, um drohende innere krisenbedingte Spannungen zu verhindern und damit politische Vorhaben umzusetzen, oder um eine Verfassung zu verabschieden, ein Staatsoberhaupt zu wählen oder Grundlinien des außenpolitischen Vorgehens oder auch andere wichtige Beschlüsse bestätigen zu lassen. Dem Autor geht es dabei mehr um den historischen Gesamtüberblick. So verzichtet er auf den Versuch von Detailuntersuchungen der einzelnen Jirgas.


Buchholz analysiert exakt die Geschichte der Loya Jirga im 20. Jahrhundert und konstatiert im Resultat: sie ist eine Institution im Wandel. Sie sei angeblich ein Erfolgskonzept. Um sie ranken sich Mythen, die der Erfindung von „Traditionen“ dienen. Dies soll der Institution Legitimität, Beständigkeit und „Wirkmächtigkeit“ verleihen. Er versteht die Loya Jirga als offenes Konzept, deren Attraktivität aus ihrer Anpassungsfähigkeit und ihrer Stärke als politisches Instrument besteht. Als Quellen für seine Untersuchungen betrachtet er offizielle Dokumente und Publikationen, die Berichterstattung durch Zeitungen, Zeitzeugenberichte, Beiträge der afghanischen Geschichtsschreibung und Gespräche mit Experten unterschiedlicher Gebiete. Das bringt es mit sich, daß diese Quellen in erster Linie die Sicht der Eliten der Hauptstadt und ausländischer Beobachter vermitteln. Allerdings werden in diesem Prozeß durchaus auch Standpunkte aus den verschiedenen Provinzen einbezogen.


Auf der Suche nach Vorbildern im Verlauf der Geschichte beschäftigt er sich mit Abdurrahman Khan und Habibullah Khan sowie deren politische Gremien um 1900. Dabei behandelt er die massiven Versuche deutscher Einmischung während des I.Weltkriegs. In den zwanziger Jahren interessieren den Autor in erster Linie die Abkehr Amanullahs von der absoluten Monarchie und Versuche mit einer neuen Gesellschaftsordnung. Nach dem Sturz Amanullahs setzen die Anstrengungen zu einer Rückkehr zur „alten Ordnung“ unter Nadir Shah ein, der wichtige Gesetzesreformen mit der Loya Jirga durchsetzte, auf die eine scheinbare Übergangslösung folgte. Dies führt das Land auf den Weg zu einer konstitutionellen Monarchie. Einen wichtigen Platz nahm in dieser Zeit die Modernisierung der Armee ein. Unter Zahir Shah standen in der Loya Jirga zunehmend außenpolitische Probleme im Mittelpunkt. Eine Wiederbelebung der Loya Jirga im Zeichen des II.Weltkriegs setzte ein. In diese Zeit fällt auch der Paschtunistan-Konflikt 1955 mit Pakistan, dessen Problematik beide Länder noch sehr lange beschäftigen sollte. Innenpolitisch standen Fragen einer Verfassungsrefom und eine Demokratisierung auf der Tagesordnung. Diskussionen über die Ausgestaltung und Funktion der Loya Jirga im Verfassungssystem nahmen einen wichtigen Platz in den Debatten ein. Aktiven Einfluß nahm Daud Khan als Ministerpräsident und auch danach auf das politische Geschehen. Das Unvermögen der Regierenden, die Bevölkerung in diesen Prozeß einzubeziehen, trug maßgeblich zum Scheitern verschiedener Projekte bei. Daud beendete die konstitutionelle Monarchie und führte die Republik ein. Bei der Durchsetzung weitreichender Veränderungen nutzte er das Instrument der Loya Jirga, von dem er sich – auch völlig neu hinsichtlich der Kompetenz – zum Staatsoberhaupt wählen und eine neue Verfassung einführen ließ. Von nun an erschien die Loya Jirga als „Quell der Entscheidung und Handlung der Nation“.


Auch unter der Herrschaft der (nach der Wiedervereinigung ihrer beiden Parteiflügel Khalq und Parcham) 1978 an die Macht gelangten Demokratischen Volkspartei Afghanistans, für die Namen stehen wie Nur Muhammad Taraki, Hafizullah Amin, Babrak Karmal und Mohammad Najibullah, spielten  Erwägungen bezüglich der Loya Jirga eine Rolle. Es entstand die Demokratische Republik Afghanistan. Sowohl die DVPA als auch der oppositionelle Widerstand reklamierten den Anspruch auf die Deutungshoheit der Institution Loya Jirga, die 1985 zum Volkskongreß deklariert wurde.  Demzufolge entstanden auch - zum Teil im Ausland - „Exil-Jirgas“. Der sowjetische Einmarsch und die Bürgerkriegswirren sowie das folgende Mudschahedin-Regime, die Taliban-Herrschaft und der absolute Zerfall aller staatlichen Strukturen schufen weitere komplizierte Probleme, auch bezüglich des Zustandekommens verschiedener Jirga-Projekte. Von 1992 bis 2001 gab es keine Loya Jirga. Erst der „Bonner Prozeß“ nach dem Ende der Taliban-Herrschaft eröffnete wieder eine Chance für einen Platz der Loya Jirga im politischen System Afghanistans. Den Werdegang bis in unsere Tage schildert der Autor in all seinen vielen Facetten.

    

Dem Band, dem die Dissertation des Autors, verteidigt am Zentralasien-Seminar der Humboldt-Universität Berlin, zugrunde liegt, sind 2 Karten, ein Personenregister, ein Bildteil und ein umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis beigefügt.